Mannheim: „Der ferne Klang“

Premiere: 10.7.2015

Rückschau und Vermischung von Ebenen

Das war ein Abend, wie man ihn nicht so schnell wieder vergisst: Die Premiere von Franz Schrekers bereits im Jahre 1912 in Frankfurt am Main aus der Taufe gehobener Oper „Der ferne Klang“ am Nationaltheater Mannheim konnte bei dem leider nicht allzu zahlreich erschienenen Publikum – rund ein Drittel der Sitze blieben leer – einen regelrechten Sensationserfolg für sich verbuchen. In den ausgesprochen herzlichen Schlussapplaus mischte sich keine einzige Missfallenskundgebung. Der Jubel der Zuschauer war in jeder Beziehung berechtigt.

Cornelia Ptassek (Grete)

Das begann schon bei Schrekers phantastischer Musik. Es ist eine überaus faszinierende, vielfältige Stilelemente seiner Zeit aufnehmende Klangsprache, mit der er hier aufwartet und gekonnt in ein durchkomponiertes Gewand nach Wagner’schem Vorbild kleidet. An den Bayreuther Meister gemahnen auch die durchkomponierte Struktur, die famose, konsequent durchgezogene Leitmotivtechnik und das üppig besetzte Orchester. In dem überaus kompliziert anmutenden zweiten Akt gibt es gleich mehrere solcher Klangkörper. Hier findet eine grandiose Parallelführung mehrerer Rhythmen, Tonarten und Tempi statt, die sicher nicht einfach zu bewältigen ist, Schrekers vielschichtiger Partitur aber einen ganz eigenen Reiz gibt. Darüber hinaus sind vielfältige Einflüsse von Strauss, Mahler und Puccini spürbar. Schreker treibt die Musik mit für seine Zeit sehr extravaganten Modulationen oft bis an deren harmonischen Grenzen und erzeugt auf diese Weise eine phänomenale klangliche Dichte.

Dass die enormen Orchesterwogen, die aus dem Graben drangen, die andächtig lauschenden Besucher in einen regelrechten Klangrausch versetzten, ist nicht zuletzt GMD Dan Ettinger zu verdanken, der das Werk zusammen mit dem konzentriert und klangschön aufspielenden Orchester des Nationaltheaters Mannheim sehr präzise, auf den Punkt genau einstudiert hatte und mit Bravour vor den Ohren des Auditoriums ausbreitete. Man merkte, dass Schrekers Oper für Ettinger eine Herzensangelegenheit darstellt. Sein Dirigat zeichnete sich durch große Suggestivkraft und enorme Spannung aus, die in immer neuen fulminanten und stark unter die Haut gehenden Höhepunkten mündeten. Die genialen Fähigkeiten des Mannheimer GMDs offenbarten sich ferner in der trotz der immensen Orchesterfluten vorbildlichen Transparenz, einer reichhaltigen, spezifisch aufeinander abgestimmten Farbpalette und hohem Differenzierungsvermögen. Da war es dann auch kein Wunder, dass er und die Musiker sich am Ende kräftiger Bravorufe des zu Recht begeisterten Publikums erfreuen durften.

Edna Prochnik (Altes Weib), Cornelia Ptassek (Grete), Statisterie

Hier haben wir es mit dem Drama einer jungen Frau, Grete, zu tun, die aus der Enge ihres spießigen Elternhauses flieht, und eines jungen Komponisten, Fritz, der über den Traum des titelgebenden Klanges das Leben versäumt. In die Figur des Fritz hat Schreker autobiographische Züge einfließen lassen. In der Zeit, als er seine Oper schrieb, befand er sich ebenfalls auf der Suche nach einem spezifischen „reinen Klang“. Es gehört nicht viel dazu, den mysteriösen fernen Klang als Sinnbild für den Sinn des Lebens auszumachen. So versteht ihn auch Tatjana Gürbaca, die zum ersten Mal in Mannheim am Regiepult Platz genommen und mit ihrer hervorragend durchdachten, handwerklich famos umgesetzten und atmosphärisch dichten Inszenierung direkt ins Schwarze getroffen hatte. Ihr Einstand am Nationaltheater war mehr als gelungen. Dabei führte sie den Zuschauer zu Beginn etwas an der Nase herum. Wenn sich der Vorhang öffnet, erschließt sich dem Blick ein durch Videofilm-Projektionen erzeugter, herrlich anzusehender See in einer schönen Landschaft samt naturalistischem Schuppen, in dem Grete und Fritz soeben eine Liebesnacht verbracht haben. Nachhaltig drängte sich da die Frage auf, ob Frau Gürbaca, eine der besten Vertreterinnen des Modernen Musiktheaters, auf einmal konventionell geworden war.

Michael Baba (Fritz), Raymond Ayers (Graf), Cornelia Ptassek (Grete), Ensemble, Chor, Statisterie

Darüber musste man sich dann aber keine weiteren Sorgen mehr machen. Als die schöne Seelandschaft auf einmal zu einem von Marc Weeger geschaffenen, nüchtern und karg anmutenden Gedankenraum und der Schuppen zur ärmlichen Heimstatt der Familie Graumann mutierten, war klar, dass die Regisseurin ihrem Stil doch treu gebliebenen war. Ihr Ansatzpunkt ist vielfältiger Natur. Mit großem Können verbindet sie Elemente einer Künstlertragödie mit denen einer Emanzipationsgeschichte, einer psychoanalytischen Fallstudie Freud’schen Musters und einer Gesellschaftsanalyse. Der erste Aspekt ist voll und ganz auf Fritz bezogen, den Frau Gürbaca als nicht unbedingt sympathischen Karrieristen vorführt, der Grete aus reichlich egoistischen Motiven verlässt und sich am Ende dann todkrank in seinem Manager Rudolf einem ihm charakterlich völlig gleichgearteten Profitjäger gegenübersieht. Grete ist es dann auch, die sich von ihrem patriarchalisch und spießbürgerlich geprägten Umfeld, in dem Frauen nichts zu sagen haben, distanziert und eine Karriere als Prostituierte startet, in der sie einen anrüchigen Hochmut entwickelt, der sie am Ende des zweiten Aktes nun ihrerseits Fritz abweisen lässt. Mit ihr hat sich im Gegensatz zum milieuhafte Klischees bedienenden ersten Akt auch die von Silke Willrett eingekleidete Gesellschaft zu einer dem Eros zugewandten Gemeinschaft gewandelt, in der die Frauen ein enormes Selbstwertgefühl entwickelt haben und sehr autark und eigenständig geworden sind. Hier werden ihnen ihre Männer nicht mehr oktroyiert, sondern sie wählen sich ihre Partner selbst aus.

Michael Baba (Fritz), Cornelia Ptassek (Grete), Sung Ha (Baron)

Dabei wird der erotische Faktor, von dem der zweite Aufzug eigentlich geprägt ist, von Tatjana Gürbaca eher kleingeschrieben. Ihr Anliegen besteht vielmehr darin, die psychologischen Triebfedern aufzudecken, denen eine derartig fragwürdige Entwicklung, wie Grete sie durchmacht, zugrunde liegt. Und hier kommt Sigmund Freud ins Spiel, dessen Psychiatercouch auch umgehend auf die Bühne geschoben wird, auf der die Regisseurin den seelischen Abgründen der Handlungsträger einfühlsam nachspürt. Dazu werden von ihr durch Doppel- und sogar Dreifachbesetzungen interessante Analogien zwischen einzelnen Personen hergestellt, die sehr berechtigt sind. So erscheint im zweiten Akt der romantisch veranlagte Graf als Alter Ego des ausgesprochen realistisch veranlagten Fritz und hat zudem in dem Schauspieler und dem Schmierenkomödianten Wiedergänger. In ihrem Profitstreben werden Rudolf und der Wirt auf dieselbe Stufe gestellt, der alte Graumann und der Baron einander gleichgestellt und der dem Lindorf aus Offenbachs Oper „Les contes d’ Hoffmann“ nachempfundene Dr. Vigelius der alten Frau zugeordnet. Deutlich wird, dass die aufgezeigten Charaktereigenschaften vielfältiger Natur und nicht nur einem Menschen zu eigen sind. Sie kommen zu allen Zeiten und an allen Orten zur Geltung. Insoweit führt die Regisseurin dem Zuschauer hier gekonnt eine ärenübergreifende Gesellschaft vor Augen. Neben der Vergangenheit wirft sie dabei auch einen vorsichtigen Blick in die Zukunft.

Hier MannheimFernerKlang05e – (Grete), Statisterie

Dabei verschwimmen zunehmend die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Surrealität. Die verschiedenen Ebenen sind zunehmend nicht mehr so recht unterscheidbar. Innere Bilder und Vorstellungen insbesondere Gretes, aber auch Fritz’, finden immer mehr in realen visuellen Impressionen ihren beredten Ausdruck. Das wird insbesondere im dritten Akt offenkundig, den Frau Gürbaca als ausgewiesene Brecht-Anhängerin als Theater auf dem Theater interpretiert. Spätestens ab dem fulminanten Zwischenspiel dieses Aufzuges wird offenkundig, dass das Regiekonzept hier seinen Ausgangspunkt hat. Auf einmal sieht man wieder den romantischen See und den Schuppen des Beginns und darf der aufkeimenden Liebe zwischen Grete und Fritz, die hier durch Jugendliche verkörpert werden, zusehen. Auf meisterhafte Art und Weise hat die Regisseurin den eigentlichen Anfang an das Ende gestellt und die beiden vorhergehenden, ohne Pause durchgespielten Akte in die Welt des Traumes verwiesen. Nicht ganz klar ist auf den ersten Blick, wer hier eigentlich träumt, ob es nun Grete oder Fritz ist. Letztlich sind es aber beide, deren Visionen hier aufgezeigt werden: Fritz träumt die reale Handlung, die er seiner im dritten Akt zur Aufführung gebrachten Oper „Die Harfe“ zugrunde gelegt hat. Und Greta sieht auf ihr verpfuschtes Leben zurück, wobei wasserfallartig niederprasselnder Sand den unaufhaltsamen Lauf der Zeit versinnbildlicht. Dieses Verständnis der Rückschau auf das ganze Vorhergegangene gestattet Tatjana Gürbaca, Grete als Widergängerin der alten Frau zu deuten, die das Mädchen im ersten Akt im Wald gefunden hat und auf diese Weise damit gleichsam eine Art der Selbstfindung vorzuführen – ein bravouröser Geniestreich der Regisseurin, der für diesen absolut überzeugenden, sehr stimmigen Regieeinfall höchstes Lob gebührt. Dass der ferne Klang bei ihr keine Musik ist, versteht sich von selbst. Er steht vielmehr, wie schon erwähnt, allgemein für den Sinn des Lebens und ein ständiges Aktivbleiben auf der Lebensbahn. Nur derart kann das Leben seine Erfüllung finden. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass Frau Gürbaca den fernen Klang nicht nur Fritz, sondern in gleichem Maße auch Greta zuordnet. Dieser erschließt sich dem endlich wieder vereinten Paar aber erst im Tode. Hier hat sich Tatjana Gürbaca wieder voll in ihrem Element gezeigt. Nichts anderes hat man indes von der jungen, sympathischen Regisseurin erwartet.

Cornelia Ptassek (Grete), Michael Baba (Fritz)

Auch gesanglich war der Premierenabend ein beglückendes Ereignis. Trotz einer angesagten Indisposition wartete Cornelia Ptassek als Grete mit einer wahren Glanzleistung auf. Sie ging gänzlich in ihrer Rolle auf, der sie mit ausgeprägtem, intensivem Spiel und einer glänzenden stimmlichen Leistung mehr als gerecht wurde. Ihr hervorragend fokussierter, strahlkräftiger und farbenreicher Prachtsopran wächst immer stärker in das dramatische Fach hinein, hat sich aber all die Fähigkeiten, wie Wärme und Emotionalität der Tongebung, die lyrischen Gesang ausmachen, trefflich bewahrt. Insgesamt gelang ihr ein differenziertes, nuancenreiches Rollenportrait von enormer Eindringlichkeit. Eine gute Leistung ist auch Michael Baba zu bescheinigen, der den Fritz nicht nur ansprechend spielte, sondern ihm mit trefflich gestütztem, dunkel timbriertem Heldentenor auch vokal voll und ganz entsprach. Einen nicht allzu großen, aber sauber geführten und eine vorbildliche tiefe Verankerung aufweisenden Bariton brachte Raymond Ayers für den Grafen, den Schauspieler und den Schmierenkomödianten mit. Mit markantem Bass sang Sebastian Pilgrim den Wirt und den Rudolf. Sonoren und ausdrucksstarken Bass-Wohlklang verströmte Bartosz Urbanowicz in der Partie des Dr. Vigelius. Von dem profund singenden Sung Ha, der als alter Graumann und Baron zu erleben war, hätte man gerne mehr gehört. Einen prägnanten Mezzosopran brachte Edna Prochnik für die alte Frau mit. Als Chevalier und zweifelhaftes Individuum vermochte Juhan Tralla mit vorbildlich fundiertem, klar und sauber geführtem lyrischem Tenor zu gefallen. Nichts auszusetzen gab es an Tamara Banjesevic (Mizzi), Dorottya Láng (Milli) und Estelle Kruger (Mary). Die Frau des alten Graumann gab Petra Welteroth. Solide waren die aus dem Chor rekrutierten kleinen Nebenrollen. Chor und Extrachor des Nationaltheater Mannheim wurden von Anton Tremmel fabelhaft einstudiert.

Fazit: Herzliche Gratulation an die Opernleitung und alle Beteiligten für diese in jeder Beziehung so überaus gelungene, preisverdächtige Aufführung, die hoffentlich noch viele Reprisen erleben wird und einen ganz famosen Beitrag zur derzeit zu beobachtenden Schreker-Renaissance darstellt! Ein Extralob geht an die schon oft bewährte Tatjana Gürbaca, die in Zukunft hoffentlich öfters den Weg nach Mannheim finden wird.

Ludwig Steinbach, 11.7.2015

Die Bilder stammen von Hans Jörg Michel

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