So geht es auch: „halb-szenisch“, ohne „ägyptische Elefanten“ und ohne störendes Regie-Theater – ein neues, überzeugendes Konzept als Saisonbeginn
Endlich wieder ein richtiger Saisonauftakt mit einem überbordenden Opernangebot. Dieser „Frühling“ nach dem langen „Pandemie-Winter“ wird auf der ersten Seite der Spielzeit-Broschüre 2022/23 der Oper in Montpellier besungen durch Ar Guens Jean Mary, ein neuer „poète en résidence“, mit seinem Gedicht „Opéra d’espoir“. Denn Oper ist Hoffnung und sie ist in Frankreich anscheinend sehr viel besser durch die Pandemie gekommen als andere Kunstgattungen. Laut der ersten Studien hat sie „nur“ einen Publikumsschwund von 15-25% zu verkraften, während dieser in den französischen Kinos bei über 50-85% (!) liegt. Denn Oper ist halt ein Teil der Stadt und es ist immer faszinierend zu sehen, wie die Direktorin in Montpellier, Valérie Chevalier, neue und oft unkonventionelle Wege findet, um das Opernhaus in die „Polis“ einzubinden – hier z.B. in dem sie ihr übliches Vorwort der Spielzeit-Broschüre an einen neuen „Stamm-Dichter der Oper“ abgibt.
„Halbszenisch“ aber wirkungsvoll: die Sänger auf der Vorderbühne des riesigen „Corum“, vor dem Orchester, dem Chor und einer Video-Leinwand. Foto: Marc Ginot (von der Generalprobe)
Ungewöhnlich ist auch ein Saisonbeginn mit einer „halb-szenischen“ Opern-Inszenierung. Auf Französisch nennt man das etwas eleganter eine „mise en espace“ (statt einer üblichen „mise en scène“): etwas nicht „auf die Bühne“, sondern „in den Raum setzen“. Bei „Aida“ scheint dieses Konzept besonders angebracht, da man auch in Frankreich bei diesem Werk eigentlich nur wählen kann zwischen 1) spektakulären OpenAir-Produktionen (nicht nur in Verona, sondern auch in Orange ist „Aida“ die meist gespielte Oper) oder 2) problematischen Regie-Theater-Produktionen an den großen Häusern, wie z.B. die ausgebuhten „Aidas“ der Pariser Oper von Olivier Py (2013) oder Lotte de Beer (2021, noch als Stream). So waren wir gespannt auf diesen „dritten Weg“, der ursprünglich 2019 bei der Opera North erarbeitet wurde (in der Industriestadt Leeds, wo es kein gängiges Opernhaus gibt).
So geht es auch: einfache Chorgesten und auf der Vorderbühne (von links nach rechts): Jacques Greg-Belobo (Ramphis), Jean-Vincent Blot (der König), Ketevan Kemoklidze (Amneris), Amadi Lagha (Radames), der Dirigent Ainars Rubikis und Sunyoung Seo (Aida). Foto: Marc Ginot (von der Generalprobe)
Das Orchester sitzt auf der Bühne, dahinter rechts der Chor auf einer Empore und links eine große Video-Leinwand. Die Solisten singen und spielen auf der Vorderbühne (in Kostümen und mit einigen wenigen Bühnenelementen und Requisiten). Die Regisseurin Annabel Arden verzichtet auf jegliche Pseudo-Ägyptologie und verlegt die Handlung in ein heutiges Kriegsgebiet – man erkennt vage das bombardierte Aleppo in Syrien auf den Videos der Ausstatterin Joanna Parker (es könnte jedoch auch die Ukraine sein). Diese Bilder bleiben zum Glück so verschwommen, mit minimaler Bewegung & Handlung, dass sie nie in Konkurrenz treten zu den Sängern auf der Vorderbühne. Und deren genau ausgearbeitete Personenregie funktioniert so gut, dass man sich ganz auf die Handlung konzentrieren kann und kein klassisches Bühnenbild vermisst. Besonders imponierten die einfachen aber wirksamen Chorbewegungen von Angelo Smimmo – so einfach geht es auch!
Der Konflikt zwischen Liebe und Vaterland : Leon Kim (Amonasro), Amadi Lagha (Radames) und Sunyoung Seo (Aida). Foto: Marc Ginot (von der Generalprobe)
Auf die Sänger-Besetzung waren wir besonders gespannt, da Valérie Chevalier als langjährige Künstleragentin ein gutes Gespür für neue Stimmen hat und meist ein „stimmiges Team“ zusammensetzen kann. So harmonierten die Stimmen, füllten sie mühelos den riesigen Saal des „Corum“ (2.000 Plätze!) und kamen quasi alle Interpreten aus dem nahen oder fernen Osten. Musikalisch gab es kaum Abstriche, was schon sehr viel ist, wenn quasi alle Sänger in diesen herausfordernden Rollen debütieren (!), aber Umwerfendes gibt es auch nicht zu berichten. Sunyoung Seo war eine berührende Aida, hauptsächlich wegen ihrem leidenschaftlich engagierten Spiel mit Amadi Lagha als Radames. Ketevan Kemoklidze begann den Abend etwas distanzierter als verwöhnte Prinzessin Amneris – was auch zur Rolle passte. Doch bei ihr saß alles so genau, verstand man – im Gegensatz zu ihren Kollegen – jedes Wort und jede Intonation, dass, als sie im 4. Akt zur leidenschaftlichen Liebenden mutierte, ihr Bekenntnis „Io l’amo sempre, disperato, insano è quest’amor che la mia vita strugge“ und ihr Fluch „Empia razza, anatema su voi“ zum Höhepunkt des Abends aufstiegen. Nach diesem fulminanten Rollendebüt ist sie schon für die nächste Spielzeit als Amneris in Madrid gebucht, wonach sicher viele andere Opernhäuser folgen werden…
An der Spitze von Staat und Kirche : Amneris (Ketevan Kemoklidze) zwischen dem Ober-Priester Ramphis (Jacques Greg-Belobo) und dem König (Jean-Vincent Blot. Foto: Marc Ginot (von der Generalprobe)
Da konnten die anderen Sänger (noch) nicht mithalten: Der junge Leon Kim fing im 2. Akt gut als Amonasro an, doch verblasste dann im dritten. Jacques Greg-Belobo hatte die Stimme des Ramphis, jedoch nicht seine Autorität, was auch für Jean-Vincent Blot als König galt. Cyrielle Ndjiki Nya war eine « grande prêtresse » ohne jegliche Einschränkung und Yoann Le Lan einer der szenisch meist beeindruckenden Boten, den ich je gesehen habe: er kam/sang als Kriegsverwundeter kriechend von der Seitenbühne!
Ainars Rubikis, zur Zeit Dirigent an der Komischen Oper in Berlin, hält mit viel Energie die 8 Sänger, das große Orchestre national Montpellier Occitanie und die beiden Chöre (aufgestockt mit dem Chor der Opéra de Nice) tadellos zusammen. Das ist eine große Leistung, sicher an einer Premiere, an der 7 Sänger in ihren schwierigen Rollen debütierten und man in einer solchen Situation auch noch mit dem Rücken zu ihnen steht. Doch etwas Persönliches habe ich aus seinem Dirigat nicht heraushören können. Außer einem interessanten Strich, dem ich noch nie bei „Aida“ begegnet bin : am Anfang des 3e Aktes ging es nach dem zirpenden Vorspiel gleich in die „Nilarie“ – also ohne das Gespräch zwischen Amneris und Ramfis (das uns auch nicht fehlte). Interessant! Also im großen Ganzen ein nachahmenswertes Experiment und eine gelungene Premiere als Saisonauftakt: das zahlreiche, enthusiastische Publikum spendete einen anhaltenden Applaus für alle Beteiligten.
Nun geht es auch in Montpellier endlich in gewohnter Art wieder weiter mit einer klassischen „Zauberflöte“ an Weihnachten etc. Raritäten kommen auch ins Programm: nach Schumanns „Manfred“ (nach Byron – siehe unsere Rezension 2017) folgen nun seine ebenso selten gespielten „Szenen aus Goethes Faust“ (wieder in einer „mise en espace“) und eine quasi nie gespielte Oper von Massenet, „Griselidis“ (konzertant). Diese in Zusammenarbeit mit dem Palazzetto Bru Zane, das diese Spielzeit Massenet widmet – worüber wir noch berichten werden …
Waldemar Kamer, 05.10.22