Premiere am 31. Oktober 2020
Von Leichtigkeit und Poesie auch gar keine Spur…
Vor fast genau 100 Jahren erlebte die Oper „Die Vögel“, das lyrisch-phantastische Spiel in zwei Aufzügen nach Aristophanes von Walter Braunfels am Nationaltheater München ihre Premiere. Es ist Intendant Nikolaus Bachler hoch anzurechnen, dass er dieses Jubiläum zum Anlass nahm, diese wohl bekannteste und dritte Oper von Braunfels, der auch das Libretto schrieb, neu inszenieren zu lassen. Sie trug sicher nicht unwesentlich dazu bei, dass vor 1933 Walter Braunfels einer der am meisten gespielten Komponisten Deutschlands und darüber hinaus war, wie Ingo Metzmacher, der Dirigent der Premiere, in einem Interview mit dem Münchner Merker vom 1. November feststellt. Der Architekt Stephan Braunfels, Schöpfer der Pinakothek der Moderne in München – der „Kathedrale des Lichts“ – und Enkel des Komponisten, kommentiert in einem Interview mit der Münchner Abendzeitung vom 30. Oktober: Bruno Walter, der Dirigent der Uraufführung am 30. November 1920, bezeichnete „Die Vögel“ in seinen Memoiren als „eine der interessantesten Novitäten meiner Münchner Amtsperiode“. Der berühmte Musikwissenschaftler und Mozart-Biograf Alfred Einstein verglich in seiner Kritik der Uraufführung „Die Vögel“ mit Wagners „Meistersingern“, weil diese für ihn die „Verklärung einer Welt, auf die wir wie auf ein verlorenes Paradies zurückschauen, darstellen, sowie mit Pfitzners „Palestrina“ als Zeugnis eines romantischen Pessimismus, egozentrisch, eng, abschiednehmend, müde.“ Für Alfred Einstein sind „Die Vögel“ „ein Werk der Sehnsucht nach dem Reich der Phantasie, der Kunst, der Poesie, und zugleich eine Erfüllung dieser Sehnsucht, ein Sprung ins vollkommen Zeitlose und Tendenzlose – ein absolutes Künstlerwerk.“ Später spricht er noch davon, dass der Gesang der Blumendüfte nicht „ins Berauschende, sondern … ins Geheimnisvolle und Stille, Mystische“ übergeht – „einer der vielen außerordentlichen Züge des Werkes.“
Wer Frank Castorf als Regisseur engagiert (Dramaturgie Rainer Karlitschek), und dessen musste sich Intendant Bachler bewusst sein, wird diese Maßgaben nicht erreichen, ja gar nicht erst zu erreichen versuchen. Was hier am TV-Stream in einem absurderweise nicht einmal mit den bisher üblichen und ohnehin (im Vergleich mit Österreich) schon geringen Corona-bedingten 500 Besuchern zu erleben war, sondern vor nur sage und schreibe 50 (!) bei völlig freiem Parkett ablief, rief fast schon Assoziationen mit dem von König Ludwig II. von Wagner unautorisiert als Privatveranstaltung uraufgeführten „Rheingold“ im September 1869 an eben dieser Stelle wach. Es war aber alles andere als poetisch, zeit- und tendenzlos oder eine Sehnsucht nach dem Reich der Phantasie und schon gar nicht geheimnisvoll still, mystisch oder gar phantastisch. Denn das liegt Frank Castorf mit seinem wieder gemeinsam auftretenden Bühnenbildner Aleksandar Denic und der Kostümbildnerin Adriana Braga Peretzki nicht, die ja gemeinsam schon beim letzten „Ring des Nibelungen“ bei den Bayreuther Festspielen Furore gemacht haben. Lothar Baumgarte war für das Licht verantwortlich.
Und so ging es auch gleich los: Die mehrgeschossige Installation, die Denic, sicher einer der besten Bühnenbildner unserer Tage, auf der Drehbühne der Bayerischen Staatsoper aufgebaut hat, ähnelt verblüffend jener des Bayreuther „Rheingold“, wo im Übrigen auch Wotan seine Spielchen mit den Damen im Obergeschoss – hier eine kleine Hütte – treibt, genauso wie hier der wenig später aus dem Fester dieser Hütte torkelnde besoffene und extrem skurril wirkende Wiedehopf – nun gut, er war ja immerhin auch schon mal ein Mensch! Günter Papendell singt den „Chefvogel“ mit einem perfekt intonierenden klangvollen Bariton bei guter Diktion, unter den Sängern einer der Besten des Abends.
Eindrucksvoll auch, wie er seine Vogelschar in geschmeidig mafiösem Arrangement mit Ratefreund und Hoffegut dazu bringt, sich deren Vorschlägen anzuschließen, die Götter mit dem Bau einer Vogelstadt herauszufordern. Castorfs Welt ist aber die der Plastizität, des aufschreierisch Plakativen, das im 1. Akt zunächst noch vor der herrlichen Lyrik der Nachtigall von Caroline Wettergreen haltmacht. Sie singt den so beliebten Vogel mit nahezu phantastischer Leichtigkeit, Koloratursicherheit und einem ausdrucksmäßigen Facettenreichtum, der für diese so schwere Rolle seinesgleichen sucht. Dazu ist Wettergreen noch außergewöhnlich schön. So sehr ihr phantasievolles Federkostüm von der ansonsten auch an diesem Abend wieder weitgehend einfallsreich agierenden Brasilianerin Peretzki zu ihr passt, aber auch an den Karneval der Grupo Especial des Karnevals von Rio erinnert, so albern sind die ersten Annäherungsversuche Hoffeguts. Durch ein Gummiband am Hals wird er vorerst von einer körperlichen Berührung mit der schon früh Angebeteten abgehalten. Im 2. Aufzug wird er sie dann ganz phantasielos und unpoetisch im grünen Gebüsch auch physisch „beglücken“, denn glücklich sieht sie dabei nicht gerade aus, und ein Kuss kommt ihr auch nicht über die Lippen.
Das alles ist zu bewundern auf der großen Leinwand, die Castorf wie so oft auch hier wieder über dem Geschehen montieren ließ, während unten unaufhörlich zwei Kameraleute störend durch das Geschehen huschen (Video Stefanie Katja Nirschel und Andreas Deinert, sowie live-Schnitt Timo Raddatz), mittlerweile auch schon wieder ein durch allerhand Regisseur-Hände gegangenes postmodernes Stereotyp. Vordergründig hat die Leinwand etwas von der Ästhetik eines Christoph Schlingensief, der aber auf ihr zum Geschehen assoziativ bezogene und meist – da gut durchdacht – passende Nebengeschichten erzählte und nicht einfach das Geschehen selbst ablichten ließ, damit auch wirklich der letzte sieht, was unten abgeht. Das war auch im ganzen Castorfschen Bayreuther „Ring“ so. Dann geht es recht banal und profan weiter mit einem großen Container, einer Cola-Box, einem Gartenzaun, einem brennenden Ölfass und sogar einer schwarzen Madonna, die später beim Taubentanz im Mittelpunkt steht, wenn sie von Ratefreund, mittlerweile zum NS-Capo in schwarzer Uniform mit Hakenkreuzbinde avanciert, sich um „Recht und Ordnung“ im neu erbauten Wolkenkuckucksheim kümmernd, mit ein paar Schluck Whisky angeprustet wird! Kann man noch tiefer in die abgespielte und geschmacklose Klamottenkiste greifen?! Hätte es nicht ein Ratefreund in einer Polizeiuniform auch getan, wenn überhaupt? Hier unterläuft Kostümbildnerin Peretzki dann auch ein allerdings zu erwartender Ausrutscher: Sie lässt einige der nun so stolzen Vögel in komplett weißer Unterwäsche auftreten, dem derzeit wohl beliebtesten postmodernen Stereotyp auf der Wagner-Bühne – und nicht nur auf der. Es geht wohl nicht mehr ohne! Und warum mussten sich fast alle Vögel in unaufhörlich raschelnde Plastikhüllen einwickeln – Castorfsche Plastizität eben…
Nach einem Moment des Innehaltens zu Beginn des 2. Aufzugs, als Hoffegut dem Gesang der Nachtigall lauscht, wird es wieder recht schnell banal mit der Freilegung seiner weißen Unterwäsche, die in gewissem Kontrast zum weißen Mond-Ballon steht, den er scheinbar in romantischem Ansinnen am Band hält. Skurril sein kurzer Verführungstanz, aber er kommt – wie gesagt – damit durch. Die Vogelstadt prunkt mit Hochtechnologie auf: Über einem topmodernen Sende- und Empfangsmast rotiert eine Hochleistungs-Radarlange, die alles und jedes erfassen kann und natürlich nun wieder als Bildfläche dient. Unten agiert Ratefreund als Nazi-Capo. Dann kommt Alfred Hitchcock mit seinen Vögeln groß ins Bild, scheint zeitweise wie ein Übervater über dem Wolkenkuckucksheim zu stehen. Man sieht seinen Film auf der Radaranlage, überall Raben… Allzu vordergründig, aber es passt halt gut rein, immerhin heißt der Kultstreifen genauso wie die Oper von Walter Braunfels…
Da wird der Einzug des Prometheus in die Szene, aus dessen überlangem Bart zunächst einmal die Weihnachtskugeln entnommen werden müssen, fast zu einem Moment der Ruhe, obwohl es normalerwiese genau das Gegenteil sein sollte! Wolfgang Koch, genüsslich eine Zigarette rauchend, singt ihn mit ausdrucksstarkem Bariton, balsamisch klangvoll und mit bester Technik bei ebenso guter Wortdeutlichkeit. Ingo Metzmacher meint in einem Interview mit der Bayerischen Staatsoper: „Zuerst soll er nur ganz leise singen, aber die Stimme muss von Anfang etwas Geheimnisvolles ausdrücken. Auch etwas Ungemütliches. Man merkt sofort: Da stimmt etwas nicht.“ Genau das hat Wolfgang Koch getan.
Wenn sich durch seine Botschaft das Bild nachvollziehbar bald darauf entscheidend wendet, muss es hier gleich eine Saturn-Rakete sein, die nach dem Start auf Cap Canaveral in der Luft explodiert, um den Untergang der Vogelstadt zu zeigen. Es kann offenbar nicht dezenter sein bei Castorf und Denic. Dazu immer wieder vermeintliche, passende oder unpassende Lebenssprüche auf der Radaranlage, ein Erbe von Carl Hegemann, dem Dramaturgen von Sebastian Baumgarten, der damit dessen Bayreuther „Tannhäuser“ 2011 überschwemmte. Also auch nichts Neues – und schon gar nichts Überzeugendes.
Der für diese Rolle schon etwas in die Jahre gekommene Hoffegut von Charles Workman war nicht der ideale Partner für die schöne Nachtigall. Er wirkte zu sehr bemüht und ließ tenorale Qualitäten mit dem nötigen Glanz und guter Wortdeutlichkeit vermissen, mit dem auch er die Nachtigall nachvollziehbar hätte betören können. So ging diese wichtige Achse des Guten in dieser Oper und das, was Alfred Einstein einst als berauschend, still, poetisch, ja phantastisch bezeichnete, nicht auf. Dazu hätte die platonische Liebe zur Nachtigall gehört, wie eine Metapher für die Sehnsucht nach dem Reich der Phantasie. Wie überhaupt Castorf mit den „Vögeln“ nicht so recht etwas anzufangen wusste – oder gar nicht anfangen wollte zugunsten einer vornehmlich optisch dick auftragenden Interpretation. Da ständig alles in übertreibender Äußerlichkeit drunter und drüber ging, eine optische „Sensation“ die nächste jagte, verflachte alles insgesamt. So wurde die immer wieder auch feine und sublime Welt der Vögel, ihre delikaten Dialoge, nicht angemessen herausgearbeitet. Und davon lebt das Stück eben auch, wie eindrucksvoll eine in dieser Hinsicht sehr gelungene Inszenierung der südkoreanischen Regisseurin Yona Kim am Theater Osnabrück 2014 zeigte. Da war weniger viel mehr! Castorf machte eine Version der „Vögel“ brut. Aber nach Stephan Braunfels sind die „Vögel“ „unkaputtbar“! Wohl wahr.
Michael Nagy war stimmlich ein etwas lyrischer Ratefreund, eher von der zurückhaltenden Art, und damit nicht unbedingt das, was man von einem Nazi-Capo erwarten würde. Ich kann mich an seinen balsamisch gesungenen Wolfram in eben der „Tannhäuser“-Produktion von Baumgarten in Bayreuth erinnern. Mit sehr guter und Akzente setzender Stimme sang Emily Pogorelc den Zaunschlüpfer, und Bálint Szabó war ein imposanter Adler bei seinem kurzen Auftritt. Theodore Platt gab einen guten Raben, während in den weiteren Nebenrollen Yajie Zhang als 1. Drossel, Eliza Boom als 2. Drossel und George Virban als Flamingo zu erleben waren. Der Chor der Bayerischen Staatsoper ließ sich unter der Einstudierung von Stellario Fagone von seiner besten Seite hernehmen.
Was auf der Bühne nicht zu sehen war, das war im Corona-bedingten reduzierten Orchester unter der Leitung von Ingo Metzmacher umso besser zu hören, zumindest meine ich das so im stream wahrgenommen zu haben. „Braunfels gehört zu den Komponisten, die bis an die Grenze gegangen sind, aber nie darüber hinaus“, meint Metzmacher im o.g. Interview, und er wusste das musikalisch sehr gut umzusetzen. Metzmacher legte offenbar viel Wert auf eine detailfreudige Interpretation der Partitur, auf die feinen Zwischentöne, die ihre Entsprechung in den Bildern oft nicht sahen. Er fand bei den Gesängen der Nachtigall herrlich lyrisch-romantische Töne und ließ beim finalen Chor der Vögel fast sakral hymnisch klingende Linien hören. Metzmacher hat das Stück bereits vor 16 Jahren in Genf kennen gelernt und fühlte sich sofort angesprochen, am meisten vom Beginn des 2. Aufzugs mit der Nachtigall, dem „üppigen, weichen Klang der geteilten Streicher, dem zauberhaften Gesang und cis-Moll, eine tolle Tonart.“ Musikalisch fanden „Die Vögel“ also mit dem Bayerischen Staatsorchester in München zu vieler Zufriedenheit statt, szenisch blieben sie einiges schuldig.
Fotos: Wilfried Hösl/Bayerische Staatsoper 1-6; privat 7
Klaus Billand /4.11.2020