Besuchte Aufführung: 26.5.2016 , Premiere: 16.5.2016
Die Frage nach der Zukunft
Der erste Entwurf von Wagner komischer Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“ entstand bereits im Jahre 1845 während des Marienbader Kuraufenthalts des späteren Bayreuther Meisters. Wagner verstand seine „Meistersinger“ als Satyrspiel zum „Tannhäuser“. Nach so viel Tragik sollte das Publikum befreit durchatmen und sich amüsieren dürfen. Mit dieser Intention bewegte sich der Komponist ganz in der altgriechischen Tradition. Sind die „Meistersinger von Nürnberg“ aber wirklich nur eine lustige Angelegenheit? David Bösch, der Wagners Werk nun an der Bayerischen Staatsoper neu in Szene setzte, meint „Nein“ und verpasst der Oper neben den heiteren auch eine Anzahl tragischer Elemente. Unter seiner Ägide werden die „Meistersinger“ zu einem tragikomischen Stück.
Wolfgang Koch (Sachs), Ensemble, Chor der Bayerischen Staatsoper
Der durchaus auch ernste Kontext erschließt sich einem bereits beim ersten Betrachten des von Patrick Bannwart geschaffenen, stets dunkel ausgeleuchteten und dem Tag abholden Bühnenbildes. Von herkömmlicher Butzenscheiben-Romantik wollen Regisseur und Bühnenbildner nichts wissen. Sie siedeln die Handlung in der Nachkriegszeit der 1950er Jahre an. Nürnberg hat hier nichts Romantisches an sich, sondern wird als heruntergekommene Plattenbausiedlung mit schäbigen Mietskasernen gezeigt. Metallgerüste belegen, dass man immer noch fleißig dem Wiederaufbau frönt. Das Wettsingen findet auf einer boxringähnlichen kleinen Bühne statt. Der Krieg hat seine Spuren hinterlassen. Es ist ein graues, schmuck- und trostloses Ambiente, das dem Auge des Zuschauers geboten wird. Und Konrad Nachtigall ist kriegsversehrt. Er geht an Krücken. Bemerkenswert ist die religiöse Toleranz des evangelischen Nürnberg gegenüber anderen Glaubensrichtungen: Zu Beginn zieht eine katholische Prozession vorbei, die an die Stelle der ursprünglichen evangelischen Gemeinde tritt.
Jonas Kaufmann (Stolzing), Chor der Bayerischen Staatsoper
Gleich darauf tritt Stolzing auf den Plan, der von der Regie so ganz anders gezeichnet wird als es sich der traditionelle Opernbesucher vielleicht vorstellt. Mit T-Shirt, Lederjacke und Gitarre bewehrt mutet er wie ein vorweggenommener Alt-68er an. Als die vorbeilaufende rothaarige und von Meentje Nielsen mit einem Petticoat ausgestatte Eva ihr Schultertuch verliert, nutzt er diesen Anlass geschickt, um mit ihr in Kontakt zu treten, und hänselt sie dabei ein wenig. Zu etwas intimeren Annäherungen zieht sich das Paar dann in den Wagen eines Bierlieferanten mit der Aufschrift „Meister-Bräu“ zurück. Überhaupt wird Bier in diesem Nürnberg augenscheinlich sehr gerne getrunken. Eine mobile Schusterwerkstatt, nicht etwa mit Nürnberger, sondern mit Münchner Kennzeichen, nennt auch Hans Sachs sein Eigen, während es der einen weißen Leinenanzug tragende Pogner bereits zu einem Luxus-BMW gebracht hat. Der einen grauen Anzug tragende David fährt auf einem kleinen Moped vor, das sich später Eva zueignet, um mit Stolzing zu fliehen. Die anderen Lehrbuben sind ebenfalls grau gewandet, tragen aber kurze Hosen. Unter ihnen sind auch Frauen in Kleidern. Sachs’ Lehrbube weiht den Ritter anhand von in Aktenordnern verwahrten Unterlagen in die Geheimnisse des Meistergesangs ein, während er eine Wagner-Büste mit Poliermittel säubert. Die Arbeit hätte er sich indes sparen können, denn am Ende des ersten Aufzuges wird der Wagner-Kopf von dem wütenden Stolzing gnadenlos zertrümmert. Respekt vor dem großen Meister hat der Ritter wahrlich nicht. Und auch der von zahlreichen Schnäpsen berauschte David zeigt davon keine Spur, wenn er sich auf der Festwiese in den Pokal der Meistersinger übergibt.
Wolfgang Koch (Sachs), Markus Eiche (Beckmesser)
Für den Gesangswettstreit wird eifrig geworben. So werden bereits im ersten Aufzug auf den Hintergrund Zeitungsanzeigen und Werbeplakate projiziert. „Veit Pogner stiftet großen Preis von Nürnberg“ oder „Eva Pogner – wer wird die Glückliche?“ ist da zu lesen. Dann wird noch ein Bild von Eva in Großformat auf den Hintergrund geworfen und mit der Aufschrift „1. Preis“ versehen. Dieses Photo ist bis zum Ende des ersten Aufzuges zu sehen und drückt auch etwas Kritik am Vorgehen Pogners aus. Die Tabulatur wird ebenfalls auf die Rückwand projiziert. Am Ende des ersten Aufzuges bleibt nicht etwa Sachs – wie es in den meisten anderen Inszenierungen des Werkes der Fall ist – nachdenklich zurück, sondern Kothner. Böschs besondere Aufmerksamkeit gilt der Figur des im Nadelstreifenanzug auftretenden Beckmesser, den er jung und durchaus nicht unsympathisch darstellt. In der Person des glücklosen Stadtschreibers werden die tragikomischen Züge der Handlung besonders deutlich. Er ist nicht von vornherein komisch, sondern wird – ganz Wagners Intention entsprechend – nur durch die äußeren Umstände in diese Rolle gedrängt. Der Regisseur nimmt ihn ernst, und das ist gut so. Daran ändern einige eingeflochtene lustige Aspekte nichts. So erklimmt Beckmesser im zweiten Aufzug mit Hilfe einer Hebebühne das Fenster der angebeteten Eva, der er, im Rollstuhl sitzend, auch im dritten Aufzug während seiner Pantomime begegnet. Sie nimmt den ihr von ihm dargebotenen Blumenstrauß aber nicht an und sucht lieber einmal mehr schnell das Weite. Hier wartet Bösch gekonnt mit einem Tschechow’schen Element auf.
Okka van der Damerau (Magdalena), Markus Eiche (Beckmesser), Sara Jakubiak (Eva)
Während der Prügelfuge wird Beckmesser schlimm gebeutelt. Allgemein wird in dieser Szene das starke Aggressionspotential der mit Baseballschlägern aufziehenden Nürnberger Bevölkerung mehr als deutlich. Auch dem als Polizisten auftretenden Nachtwächter wird wenig Respekt gezollt. Einige Bürger mit Affengesichtern weisen ihn rigoros in seine Schranken. Ja, gegenüber Gesetz und Ordnung ist man hier nicht gerade aufgeschlossen. Spätestens in dieser Szene wird deutlich, dass wir es hier eben nicht nur mit einer Komödie, sondern in gleichem Maße mit einer Tragödie zu tun haben. Dieser Aspekt erweist sich in all seiner Schärfe auch am Ende des Stücks: Stolzing hat überhaupt kein Interesse daran, ein Meistersinger zu werden, und verlässt mit Eva schnurstracks die Bühne. Sachs Ansprache „Verachtet mir die Meister nicht“ geht ins Leere. Dem auf der ganzen Linie Schiffbruch erleidenden Schusterpoeten bleibt nur noch, sich eine Zigarette anzuzünden und einer ungewissen Zukunft entgegenzusehen. Zu den Schlusstakten erscheint noch einmal Beckmesser und richtet eine Pistole gegen Sachs. Dann überlegt er es sich jedoch anders und erschießt sich selbst – ein ebenso tragisches wie unvorhergesehenes Ende. Insgesamt ist zu konstatieren, dass der Regisseur die Biographie der Figuren konsequent zu Ende gedacht hat. Von einer Komödie ist nun nichts mehr zu spüren. Das Ende mündet vielmehr in eine Katastrophe. Die meisten Figuren sind gescheitert. Das Scheitern steht auch im Mittelpunkt von Böschs Interpretation. Die Frage, ob unter diesen Umständen eine Neudefinition alter Werte überhaupt noch möglich ist, wird nicht beantwortet. Was künftig aus Nürnberg werden wird, bleibt offen und seine Zukunft ungewiss. Das alles hat Bösch mit Hilfe einer flüssigen, stringenten Personenregie eindringlich umgesetzt.
Benjamin Bruns (David), Jonas Kaufmann (Stolzing)
Wieder einmal ist GMD Kirill Petrenko am Pult eine ausgezeichnete Leistung zu bescheinigen. Bereits das Vorspiel wies einen derart frischen, kontrast- und farbenreichen Klang auf, dass es eine Freude war, ihm und dem hervorragend disponierten, mit großer Eleganz aufspielenden Bayerischen Staatsorchester zuzuhören. Sein Dirigat war von großem Elan, zügigen Tempi und kunstvollen Übergängen geprägt. Viril präsentierten sich die Streicher, pastos die Blechbläser und auch die Holzbläser spielten mit akribischer Genauigkeit. Die Absichten des Dirigenten wurden minutiös umgesetzt. Und diese waren sehr vielfältig. Nicht nur, dass Petrenko die Mittelstimmen bestens herausarbeitete, auch der manchmal etwas ironisch und sarkastisch anmutende Unterton, den er dem Ganzen angedeihen ließ, wirkte im Gesamtgefüge der Musik ausgesprochen passend. Darüber hinaus wartete er mit einer breiten dynamischen Skala und grandiosen Steigerungen bei vorwärtsdrängendem Impetus auf. Dabei behielt er nicht nur den großen Gesamtzusammenhang im Auge, sondern gefiel sich auch in feinen Modellierungen von Einzelheiten. Die Transparenz war ebenfalls vorbildlich. Bravo!
Ensemble, Chor der Bayerischen Staatsoper
Auf insgesamt hohem Niveau bewegten sich die sängerischen Leistungen. Wolfgang Koch bestach als Hans Sachs schon rein äußerlich durch ein ausgeprägtes Charisma und intensives Spiel. Aber auch gesanglich zeigte er sich in Topform. Bei ihm musste man an keiner Stelle Sorge haben, dass er die extrem lange Partie nicht durchhalten könnte. Nein, er hielt sie nicht nur problemlos durch, sondern lotete sie mit seinem prägnanten, bestens fokussierten und ausdrucksstarken Heldenbariton auch differenziert und vielschichtig aus. Für den Stolzing kann Jonas Kaufmann als Idealbesetzung gelten. Gut aussehend, cool und lässig auftretend und mit einem breiten, dunkel timbrierten und gut sitzenden Tenor auch tadellos singend zog er alle Register seiner Rolle, der er auch schauspielerisch gut entsprach. An das hohe Niveau seiner beiden Mistreiter vermochte Markus Eiche s prächtiger, noch junger Beckmesser nahtlos anzuknüpfen. Das war ein Stadtschreiber fernab von jeder traditionellen Karikatur, ein vom Schicksal geschlagener Mann, mit dem man nicht erst bei seinem tragischen Ende Mitleid hatte. Ihm zuzuhören, war eine reine Wonne. Mit feinem, edel timbriertem und eine hervorragende Grundierung aufweisenden Bariton fasste er seine Rolle ganz und gar lyrisch auf und bestach durch puren Wohlklang. Gut gefiel auch Sara Jakubiak, die mit prägnantem, in jeder Lage trefflich ansprechendem Sopran eine intensiv klingende Eva sang, die sie auch überzeugend spielte. Den Pogner stattete Christof Fischesser mit sonorer Basswürde und einer vorzüglichen italienischen Technik aus. Bestens italienisch geschult mutete auch der Bariton des Fritz Kothner von Eike Wilm Schulte an, der trotz seiner 76 Jahre noch immer über beeindruckendes Stimmmaterial verfügte. Ebenfalls einen guten Eindruck hinterließ Okka van der Damerau, die mit voll tönendem, warmem Mezzosopran eine Magdalena vom Besten sang. Demgegenüber fiel Benjamin Bruns, der mit nicht sonderlich gut verankertem, etwas dünn und körperlos klingendem Tenor den David sang, etwas ab. In der aus Kevin Conners (Kunz Vogelgesang), Christian Rieger (Konrad Nachtigall), Ulrich Reß (Balthasar Zorn), Stefan Heibach (Ulrich Eißlinger), Thorsten Scharnke (Augustin Moser), Friedemann Röhlig (Hermann Ortel), Peter Lobert (Hans Schwarz) und Christoph Stephinger (Hans Foltz) bestehenden Liga der kleinen Meister waren größtenteils gute, aber auch weniger ansprechende Stimmen zu vernehmen. Ein passabler Nachtwächter war Tareq Nazmi. Mit einem Sonderlob ist der von Sören Eckhoff einstudierte, famos singende Chor und Extrachor der Bayerischen Staatsoper zu bedenken.
Fazit: Ein imposanter, sowohl sehens- als auch hörenswerter Opernabend, dessen Besuch jedem Opernfreund dringend ans Herz gelegt wird.
Ludwig Steinbach, 29.5.2016
Die Bilder stammen von Wilfried Hösl