Premiere: 3.4. 2022
Beginnen wir mit dem Einfachsten: den Sängern, die die vielen kleinen und die längeren Noten von Richard Strauss zu singen haben, um uns die Geschichte vom Rosenkavalier zu erzählen. Wenn Julia Grüter die Sophie singt, ist das Glück der Zuhörer vollkommen. Ihr leuchtender Sopran repräsentiert an diesem Abend den Strauss-Gesang par exellence.
Vielleicht liegt es auch daran, dass das Orchester, das am Premierenabend nicht unter der angekündigten GMD Joanna Mallwitz, sondern unter dem „Nachdirigenten“ Lutz de Veer spielt, im ersten Akt – deren erste Hälfte und deren Schluss bekanntlich der Marschallin und dem Octravian gehören – die Sänger so übertönt wie in keinem der beiden Folgeakte. Das macht: Straussens Instrumentierung, sein symphonisches Orchester, das für die Hofopern von Dresden, Wien und München und für die Metropolitan Opera, aber nicht für ein „kleines“ Haus wie das damalige Nürnberger Stadttheater organsiert wurde, das macht auch der Umstand, dass die Akustik des Hauses bei den großen Opern nur dann funktioniert, wenn eine Delikatesse-Spezialistin vom Range der GMD am Pult steht. So aber verschwanden Emily Newton und Mireille Lebel im ersten Akt allzu oft unter dem Orchesterklang, gegen den an sich nichts zu sagen wäre; die Staatsphilharmonie Nürnberg spielt Straussens rhytmisch bisweilen vertrackte und harmonisch gelegentlich gewagte Musik mit sehr hoher Kompetenz.
Die Musiker haben hörbar Spaß daran, die Walzer und die Wozzeck-Vorklänge, die Schnadahüpferl und die Schönberg-Parodie (in der Beisl-Szene), also die denkbar unterschiedlichen Stilschichten des Rosenkavaliers herauszuspielen, der (man kann das hören, wenn man nur will) wesentlich mehr war als ein Umschwung in die musikhistorische Reaktion – wenn‘s nur im ersten Akt nicht so präpotent herausdonnern würde. Hat der Dirigent die Bläser zu oft angeschaut? Denn der Orchesterpraktiker Strauss wusste ja – er hat es in seinen Anweisungen für einen Dirigenten dekretiert –, dass die Bläser schon zu laut spielen, wenn man sie nur anblickt. Man darf also gespannt sein, wie zumal der Kopfakt klingt, wenn Joanna Mallwitz den Taktstock in der Hand hält. Glitzern und glänzen tat es ansonsten schon am Premierenabend, die Tempi kamen weder verhetzt noch schleppend, die heiklen polyrhythmischen Sequenzen wurden bravouros gemeistert – nur stellte sich an den sog. „schönen Stellen“, besonders der „schönen Stelle“ des 2. Akts, also der Rosenüberreichung, nicht immer das Gefühl ein, es mit einem besonders bewegenden Werk zu tun zu haben.
Es lag nicht an der Musik, es lag an der Inszenierung. Nun muss sich jeder Regisseur, der das Werk von Neuem inszeniert, natürlich fragen, wie er es denn mit der Ästhetik halte, die seit der Premiere des Werks vor 111 Jahren bis in die jüngere Gegenwart so dominant war, dass die ersten Aufführungen, die den Rosenkavalier aus dem Alt-Wien des ersten Bühnenbildners und Kostümgestalters Alfred Roller herausholten, vermutlich viele Zuschauer geschockt haben. Die Gretchenfrage, wieviel Gegenwart dem Werk zuzumuten ist, ist indes keine dumme – denn die sozialhistorische und gesellschaftliche Genauigkeit, mit der Hugo von Hofmannsthal sein künstliches theresianisches Wien entworfen hat, ist nach wie vor eine Hypothek, die nicht mit der Forderung, dass die Figuren „freigestellt gehören“, beiseite geschafft werden kann. Es gibt viele Wege zum Rosenkavalier, aber nur wenige, bei denen der verständliche Wunsch nach „Freistellung“ nicht Schiffbruch erleidet, weil das, was Strauss und Hofmannsthal sich damals erdachten, so konkret ist, dass es jede Interpretation gefährdet, die vom historischen Kontext – und sei es der der Enststehungszeit – so abstrahiert, wie wir es in Nürnberg nun wieder sehen.
Man kann sich dem Rosenkavalier ja auf vielerlei Wegen nähern: man nimmt eine pseudohistorische Rekonstruktion des theresianischen Wien vor und spielt eine mehr oder weniger psychologische Komödie, man setzt, wie Barry Kosky, den Stoff in die Jahre kurz vor 1914, wobei man die Nostalgie als letzte Zuckungen des Wissens um eine „heile“, vom Neorokoko und Neubarock beseelte und extrem silberne Welt interpretiert, man begibt sich, wie bei André Heller, in ein süffiges, von Japonismen und von Gustav Klimts Bildwelten regiertes Vorkriegswien, man stopft, wie bei Herheim, die Mythen des späten 19. Jahrhunderts, also der Makart-Zeit, und den neuen Mythos eines vereinigten Europa bildmächtig ins Werk, ohne das Wien der Spielzeit zu ignorieren, man lässt es, wie bei Herbert Wernicke, in einem Spiegelkabinett spielen, man seziert den Stoff und bricht ihn auf irgendeine rohe Gegenwart hinunter, wie Sebastian Baumgarten es in Kassel gemacht hat, wo die braven Bürger das Premierenorchester mit ihren Trillerpfeifen anreicherten. Marco Storman macht es mit seinen Bühennbildnerinnen Frauke Löffel und Anna Rudolph, seinem Kostümgestalter Axel Aust und dem Mann am Licht, Kai Luczak, ein bisschen wie Baumgarten, setzt aber auf die bewusste Sterilität einer Szene, die fast durchwegs in Schwarz und Grau gehalten ist, und deren Grundelemente ein paar Dutzend seitliche Drehpaneele und Drehflächen an deutlich sichtbaren Metallstangen sind, hinter denen die Figuren verschwinden können, die gerade nicht für die laufende Szene „freigestellt“ sind – so kommt‘s, dass die Marschallin nach dem Lever des ersten Akts plötzlich mit einem in Goethes Sinne „bedeutenden“ leuchtend roten Kleid, das einem ästhetischen Schock gleichkommt, wieder die Bühne betritt. Ansonsten dürfen die Figuren zufrieden sein, wenn sie ein weißes oder, wie Octavian, ein Kostüm tragen, das dunkelblaue Anteile besitzt. Der neureiche Faninal trägt immerhin noch sandgraubraun. Ansonsten ist‘s dunkel in dieser Welt – wenn nicht die Lichtstäbe ihren grellen Schein auf die Bühne lenken.
Das Problem ist eben diese Bühne. Wo die totale Abstraktion des Raums eine Gegenwart behauptet, die nichts als ein trockener Spielraum ist, wird zwar der Fokus völlig auf die Figuren gelenkt – aber was sind das für Figuren? Die Marschallin ist offensichtlich eine Frau aus bester Gesellschaft, ihr jugendlicher Amant ein Jüngelchen, das so stolz auf seinen erotischen „Sieg“ ist, als dass wir seine Entzückung(en) – als unbewusste Äußerungen eines frühen Liebesglücks – allzu ernst nehmen könnten. Der Ochs aber ist nicht der wenn auch heruntergekommene, auf seine Weie witzige, manchmal sogar charmante Landadelige, als den ihn Hofmannsthal und Strauss gezeichnet haben, sondern ein derber Vorstadtstrizzi, der in seinem Äußeren ein wenig an einen anderen großen Darsteller schiacher Gestalten erinnert: an Helmut Qualtinger. Der Ochs des Patrick Zielcke macht erst gar nicht den Versuch, eleganter zu erscheinen, als es ihm der Rang zugestehen würde, der es überhaupt möglich macht, im Schlafzimmer einer Frau vom inneren und äußeren Range der Marschallin zu erscheinen. Er ist primitiv, unsubtil und unverstellt geil und geldgierig, er muss nicht viel tun, um es sich bei Sophie zu verscherzen, und er stammt distinktionsmäßig aus einer Unterschicht, die diesen Rosenkavalier von vornherein zu einer absurden Posse macht. Gewiss: Zielcke singt großartig, er spielt den brutalen Kerl mit den Manieren eines Rockers vom Reißbrett höchst unterhaltsam heraus, er findet unser Interesse, obwohl schon sprachlich etwas Wesentliches fehlt: das österreichische Idiom, ja: Irgendwie mag man den heruntergekommenen Hallodri in seiner ganzen Unverschämtheit gern leiden – aber er spielt nicht den Ochs auf Lerchenau, der in der genau porträtierten sozialen Welt des Rosenkavaliers funktionieren würde, „Freistellung“ hin oder her. Er spielt – wie gesagt: amüsant, witzig noch in seiner letzten Obszönität, die ihn vor den gespreizten Beinen der falschen Jungfer masturbieren lässt – sein Spiel, aber im Rosenkavalier wirkt er wesentlich fremdartiger, als es Hofmannsthal und Strauss sich auch nur ansatzweise vorstellten. Es liegt gewiss nicht allein daran, dass er der „Mariandl“, von der er längst weiss, dass er mit „ihr“ einen Mann vor siuch hat, unter den Rock kriecht. Also: Eine auch sexuelle Fehlkonzeption, mit der (fast) das ganze Schiff untergeht. Nicht, dass wir eine wie auch immer realistisch gespielte Beisl-Szene vermissen würden – Mireille Lebel spielt das falsche Mariandl wirklich großartig anzüglich und erotisch – , aber wenn das gesamte Vorspiel des dritten Akts, dessen Musik die Szene wie im Micky-Mousing begleitet, als reines Orchesterstück in unsere Ohren dringt und sich erst mit dem Vokaleinsatz der Vorhang öffnet, hat sich die Regie in ihr rauchendes Mauseloch zurückgezogen, in dem sie einen denkbar „frei“ gedachten Rosenkavalier so auf das „Allgemein-Menschliche“ reduziert hat, dass die meisten Aktionen unsinnig werden. Es sei denn, dass man den gewaltigen Abschliff toleriert, der immer dann entsteht, wenn zwischen Text und Szene, behaupteter sozialer und gleichzeitig uninszenierter Realität gewaltige Lücken klaffen. In einer unkonkreten Gegenwartswelt lässt sich eben keine Komödie mit Musik spielen: nicht einmal dann, wenn ein Sänger und Darsteller wie Patrick Zielcke eine halb grandiose, halb extrabillige Figur auf die Bühne stellt.
Dass es keinen Mohren gibt, weder einen kleinen noch einen großen (wie in André Hellers Berliner Inszenierung), versteht sich von selbst. Er wird ersetzt durch eine kleine Gestalt, der die Regie eine große an die Seite gab: die kleine und die alte Marschallin, entsprungen aus ihrem Monolog, aber auch die Allegorien der Zukunft und der Vergänglichkeit, des aufkeimenden Lebens und des nahenden Todes, für die die Seifenblasen, natürlich, eine gute Metapher sind. Ironischerweise beginnt das Spiel mit dem Auftritt der Alten, bevor der letzte Vorhang vom kleinen Mädel zugezogen wird. Das Leben wird, im Zeichen der wie auch immer sich zukünftig gestaltenden Liebe von Sophie und Octavian, weitergehen; die Marschallin wird nach ihrer Blondhaarphase mit erbraunten Haaren ihren Weg verfolgen. Immerhin konnten wir im zweiten Akt – präzise an der Stelle, an der die Solotrompete in das Duett eintritt – beobachten, dass den Herrn Octavian nun offensichtlich mehr überfällt als die machismohafte Hoffnung, ein „hübsches junges Ding“ flachzulegen. Das ist tröstlich – und rettet die Figur vor dem Verdacht, genauso scheusslich eindimensional zu sein wie der Baron, den der Regisseur und sein Sänger erfunden und durchaus nicht zur Kenntlichkeit entstellt haben.
Da schaut man dann doch lieber auf den Octavian – als Octavian und Mariandel -, der mit Mireille Lebel eine annehmbare Interpretin fand, wenn man sie nur, siehe oben, schon im ersten Akt gut verstehen würde. Für Emily Newton gilt dasselbe. Schade, denn Emily Newton gestaltet eine ganz damenhafte, vornehm artikulierende Marschallin. Wichtig auch Jochen Kupfer, dessen Faninal, wie nicht anders zu erwarten, ein sehr eleganter Neureicher ist, auch wenn dessen ebenso neureiches Palais in dieser Inszenierung jeglicher Wirklichkeit entkleidet wurde. So aber wird das Beziehungsgefüge zwischen Ochs, Faninal und Sophie auch jeglichen Sinns beraubt – die Frage gebt verloren, was hier, in diesen Hallen, eigentlich für ein Spiel gespielt wird, auch wenn Julia Grüter eine phänomenale Sophie aus ihrer goldenen Kehle entlässt und sich bemüht, im seltsamen Dauergrinsen so etwas wie eine prägnante Figur zu entwickeln.
Rauschender Applaus also für die Sänger, auch den „Sänger“ Tadeusz Szlenkier und die Annina (und falscher „Witwe“) der Almerija Delic, insbesondere für Julia Grüter und Patrick Zielcke – und ein paar Buhs für das Orchester und die Regie.
Fotos: Pedro Malinowski
Frank Piontek, 4.4. 2022