Premiere: 18.12. 201. Besuchte Vorstellung: 25.12. 2021
Natürlich gibt‘s auch im Narrenschiff einen Tanznarren: „Ich hielt nah die für narren gantz / Die freüd vnd lust hant jn dem dantz / Vnd louffen vmb / als werens toub / Mued fueß zuo machen jnn dem stoub.“ Glücklicherweise scheint es sich, folgt man Sebastian Brants Definition dessen und derer, der und die sich „müde Füße“ macht und „Freude und Lust“ im Tanz verspürt, glücklicherweise also scheint es sich bei der Nürnberger Tanzcompagnie um eine besonders fanatische Spezies dieses besonderen „Narren“ zu handeln – denn auch die üppig ausgestattete und orchestrierte Narrenschiff-Produktion des Nürnberger Staatstheaters hält es wieder mit der äußersten Intensität, Fantasie und Magie.
Das Narrenschiff Goyo Monteros – es besteht aus zwei Teilen, die durch eine kleine Bewegung und eine große Folie zusammengehalten werden. Maria, so heißt der erste Teil, er stellt die Figur der Maria Magdalena, abstrahiert, in den Mittelpunkt. Wüsste man nicht, dass die halb legendäre, halb wohl historische Geschichte und Gestalt der Gefährtin Jesu gemeint ist, käme der Zuschauer wohl kaum darauf, aber Montero kam es auf etwas Anderes an. Mit seinem Ensemble, in dem nicht ein, sondern mehrere Tänzer den „Rabbuni“ in Folge repräsentieren, spielt er die Geschichte einer starken wie von ihren Zweifeln gedrängten Frau: in Bezug auf eine Männerwelt, in der sie langfristig keine Chance hat, als eigenständig-starke Frau noch aufzutreten. Es steht also, zum wiederholten Mal – denn dies ist das Grundthema aller Montero-Schöpfungen –, der / die Eine und das Kollektiv / die Masse im Mittelpunkt der dramaturgischen Anlage. Doch bleibt es das Geheimnis des Choreographen, die Masse nicht als Formierung gesichtsloser Einzelner zu zeigen, sondern stets das Individuum in der Gruppe kenntlich zu machen. Dass die sechs Jesus- "Darsteller“ sich am Ende von „Maria“ in einem schlicht hinreißenden, gleitenden Abschied voneinander trennen und immer wieder neue Paare, mit Maria als Fixpunkt, sich bilden, ist ja schon aussagestark.
Die Moral von der Geschicht‘, die angesichts einiger Bildrätsel und gestischer Exzentrizitäten kaum in Worten fassbar ist – ansonsten bräuchte man kein Tanztheater, sondern würde mit den Begleittexten der Dramaturgin Lucie Machan auskommen -, weil Monteros Bewegungssprache, die beständig variiert wird, bei allem Stampfen, Übereinanderrollen (im Geburtsakt des ganzen Abends), Sichzusammendrehen, Sichimmerwiederneugruppieren, Sichtrennen und Rhythmischaufdenbodensichwerfen verbal nicht übertragbar ist, diese Moral muss wie immer jedem Zuschauer zur pesönlichen Deutung überlassen werden.
Was bleibt, ist die agile wie hinreissend spielende Prima inter Pares in diesem ersten Teil, also Diana Vishneva. Am Ende rudert sie einem Ausgang zu: ein schmaler Spalt, durch den das Licht dringt. Was dahinter liegt, ist – Teil II – das Narrenschiff. Wird auch, wovon schon die Kostüme Salvator Mateu Andujars zeugen, zunächst deutlich Bezug genommen auf den berühmten Text Sebastian Brants, mit dem er vor 500 Jahren die Idioteleien und „Sünden“ seiner Zeit aufs Korn nahm, so erweitert sich das Bild schnell ins Allgemeine. Dafür sorgt schon die Bühnengestaltung – verbindendes Element beider Teile sind die bifokalen Folien, die wir aus der Tagesschau und dem Tatort kennen. Gold und Silber, mit diesen beiden leuchtenden Farben und dem im wörtlichen Sinne bedeutenden Material bauen Montero, seine Bühnengestalter Leticia Ganán und Curt Allen Wilmer und der Lichtmacher Tobias Krauß ganze Landschaften auf, die an Felsformationen, das Meer und an Wände erinnern, die Wieland Wagner nicht schöner hätte erfinden können.
Um nur ein Beispiel zu nennen: wenn unten zwei fantastische, durch eine flexible Textilröhre verbundene Gestalten sich in einem Kampf bewegen und sie nur vom Dunkel umgeben sind, erblickt man über ihnen eine mild beleuchtete, ins Finstere scheinende Goldfläche – und blutrot und wild wallend wölbt sich die Fläche über den wie im Todeskampf (eine Erinnerung an die täglich sterbenden Flüchtlinge im Mittelmeer) sich bewegenden Tänzern, wenn die ersten Takte des vierten der Letzten Lieder Richard Strauss‘ den Zuschauerraum so fluten wie die hinreißende, todverheißende, tiefrote Silberplane dem Zuschauer sich aufdrängt. Montero hat wieder „alte“ Musik in sein Projekt integriert, die den Hallraum des Tanzes bisweilen rhythmisch akzentuiert, bisweilen konterkariert, ohne dass doch Unsinniges entstünde. Wenn Emily Newton (gewandet in der bekannten Meeresmüllplastik, am Ende sich selbst als Närrin krönend) das unendlich ruhig klingende Im Abendrot silbrig singt und die Compagnie dazu wild zuckt, begreifen wir bewegt, dass es mit dem Abschiednehmen von dieser Welt nicht so einfach ist, wie Eichendorff und der alte Strauss sich das vorgestellt haben – ohne dass doch Strauss und Eichendorff denunziert würden.
Strauss und, als symphonische Ergänzung von höchster dramatischer Explosivkraft, Owen Belton im zweiten Teil, Pergolesis Stabat mater in einer Übermalung und Erweiterung von Lera Auerbach im ersten Teil: so funktionieren Alt und Neu, Tradition und Gegenwart in einer Mischung aus Zuspielung und Live-Musik. Die Staatsphilharmonie Nürnberg spielt unter Francesco Sergio Fundarò bezwingend schön und, schon im leidenschaftlichen Barockton, bezwingend stark. Wenn ein (Tanz-)Bild, wenn auch im Stillstand, mehr sagt als 1000 Worte, vermag die Musik mehr zu sagen als das, was im Tanz aufgehoben sein könnte. Erst zusammen entfalten sie eine Wirkung, die – im magischen, auf äußerste Herausarbeitung der Körper angelegten Licht betrachtet – so berauschend ist, dass die Verzweiflung, die den Zuschauer angesichts der von Montero und seiner Compagnie gezeigten Zustände überkommen könnte, stets der „Freud und Lust“ an der Kraft und Bewegungsfähigkeit der Szene und der sich begegnenden, sich abstoßenden, sich immer wieder in neuen Gruppen findenden Tänzer weicht. Bewegungsfähigkeit – das ist es am Ende, was auch diesen Abend so besonders macht.
Frank Piontek, 26.12. 2021
Fotos: ©Jesús Vallinas