Nürnberg: „Tamerlano“

Premiere: 23.10. 2021

Selten genug, dass man mal eine Oper von Vivaldi nicht allein zu Gehör (das machen CD und Youtube ganz gut), sondern auch zu Gesicht bekommt. Obwohl es sich „nur“ um ein Pasticcio, also um ein seinerzeit beliebtes Misch-Produkt aus eigenen und andershändigen Arien aus frischen und weniger jungen Opern und neuen Rezitativen, handelt, ist der Barockopernfreund doch froh, dass die Nürnberger Vivaldis Tamerlano aufs Programm gesetzt haben. Der Impresario und Opernschöpfer brachte das Werk 1735 im Teatro Filarmonico heraus – in Nürnberg erlebt es seine Erstaufführung, wobei man seinerseits das macht, was Vivaldi damals zu tun beliebte: Man legte eine Fassung vor, die die überlieferten Arien zum Teil durch neue ersetzte, auch zwei strich. Es ist angesichts der Baukastentechnik einer Gattung, die weniger auf psychologische Abwechslung als auf die Routiniertheit beliebter Gleichnis- und Affektarien setzte, kein Schaden, auch wenn der Purist unter den Opernbesuchern es vorgezogen haben mag, neben den anderen 21 Nummern (19 Arien und zwei Quartette) die Arie Vedeste mai sul prato aus Hasses Siroe und Geminiano Giacomellis Non ho nel sen costanza aus dessen Adriano in Siria zu hören.

Der Barockopernfreund bekommt beispielsweise eine Porpora-Arie serviert, denn nicht alle im Textbuch abgedruckten Arien wurden in der Fassung des Vivaldischen Tamerlano überliefert: Tamerlanos Arie Cruda sorte, avverso fato wurde durch eine typische Cruda sorte-Arie aus Porporas Poro ersetzt, denn hier wie dort ist das Schicksal wieder einmal schrecklich. Im Übrigen bricht in Nürnberg spätestens dann das pure Entzücken aus, wenn Asterias Arie Amare un alma ingrata aus Hasses Siroe ertönt. Almerija Delic singt dieses hochlyrische Stück einfach herzbewegend. 12 Nummern des venezianischen Meisters (die Sinfonia und zwei Quartette eingeschlossen, nicht gezählt die beiden großen, leidenschaftlichen Accompagnato-Rezitative), die innerhalb der Nürnberger Aufführung teilweise verschoben werden, sowie drei Arien von Giacomelli, fünf Arien des großen Hasse (des Großmeisters der Opera seria) und je zwei Arien von Riccardo Broschi und Nicola Porpora (der seit 2020 beim Bayreuth Baroque Festival eine grandiose Auferstehung erlebt): daraus besteht das Stückwerk, dessen stilistischer Ambitus jedoch weniger groß ist, als man es vor allem in Blick auf Vivaldi und den jüngeren Hasse bemerken könnte. Dem sog. Laien mag eh alles gleich klingen, aber dem Kenner der Vivaldischen und Hasseschen und Porporaschen Tonsprache fällt auf, dass die drei Meister ihre eigenen Rhythmen und Harmonien besaßen – am Ende werden die Kontraste – eben durch die Kontraste zusammengehalten, denn es fällt auf, dass Vivaldi für die „guten“ Figuren seine Arien einsetzte, während er für die „finsteren“ vor allem die der Kollegen (die auch Konkurrenten waren) verwertete; ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Es ist ja schon reizvoll, die heroische Trompete und die kühn aufspielenden Hörner zu vernehmen, wenn der Titel-Tyrann – wie in Porporas grandioser „Destrier“-Arie aus dem Poro – zu einer seiner vollmundigen Verlautbarungen anhebt. Es machte und macht schon Sinn, dass Hasse seine empfindsamen Töne je zweimal dem Andronico und der Asteria (unwillentlich) zur Verfügung stellte.

Worum aber geht‘s in einer Oper, die eher durch Händels Vertonung als durch Vivaldis Pasticcio bekannt ist? Um Sex, politische Gewalt, aber gewiss nicht um gute Laune. Es geht um eine übliche Eifersuchts- und Machtgeschichte, also um einen Diktator, der einen Erzfeind (Bajazet) unter Verschluss hält, dessen Tochter (Asteria) er begehrt, während eine zweite Frau (die Königin Irene) um sein Herz kämpft und der betrogene Dritte (Andronico, der Geliebte der Asteria) im dreckigen Spiel mitzuhalten versucht. Dreckig ist es auch deshalb, weil Bajazet (so heißt die Oper laut Libretto) im dritten Akt dem Tyrannen nicht verzeiht, sondern ungewöhnlicherweise gewaltsam stirbt, bevor das obligatorische lieto fine für eine Art Frieden sorgt; die Inszenierung beharrt nicht darauf, dass damit alles alles gut sei. Nina Russi parallelisiert die weibliche Hauptfigur mit einer jener Aktivistinnen, die in Weißrussland und Russland mit pazifistischen Mitteln gegen die regierenden Psychopathen revoltieren, um schlussendlich jahrelang eingesperrt zu werden. Das Ende der Inszenierung markiert eine Utopie: Asteria bleibt, vor der schwarzen Scherenwand des Palasts und der Machtzentrale, eine politische Kämpferin, nachdem ihr Vater es nicht vermocht hatte, die Lehren, die er aus der Lektüre der Schriften Antonio Gramscis gezogen hatte, in die Tat umzusetzen – ein akzeptables Schlussbild einer Deutung aus dem Geist der unmittelbaren Gegenwart, die das Stück nicht beschädigt.

Denn Almerija Delic (als Asteria), Julia Grüte r (als Irene), Nian Wang (als Andronico) und Maria Ladurner (als Idaspe, die Terrorassistentin des Gewaltherrschers) bieten beste Leistungen; wo Grüter (sie vor allem), Wang und Ladurner die Koloraturfeuerwerke eines Hasse und Broschi aus ihren geläufigen Gurgeln herauslassen, ist die Begeisterung des Publikums vollkommen, während Delic mit ihrem expressiven Alt auf einer anderen Ebene entzückt. Seltsamerweise hat der Bösewicht die höchste Stimme: David DQ Lees Counter verleiht dem Verbrecher einen Hauch von Dekadenz (Gold steht ihm übrigens besonders gut). Florian Götz ist schließlich Bajazet, der Mann im Rollstuhl und auf Krücken, ein Wrack sondergleichen, der denn seine drei Hass- und Verzweiflungsarien auch weniger einschmeichelnd als kernig heraussingt.

Die Staatsphilharmonie Nürnberg spielt wieder unter der Leitung von Wolfgang Katschner; zusammen mit den beiden Cembali und den Lauteninstrumenten des 18. Jahrhunderts produzieren sie so etwas wie einen Misch-Sound, der mehr nach Vivaldis Zeit als nach der Gegenwart klingt, auch wenn Dynamik und Pathos eindeutig dem Heute angehören – was nicht allein für die Szene gilt.

Frank Piontek, 24.10. 2021

Fotos: ©Bettina Stöß