Paris: „La Bohème“

Premiere am 1.12.2017

Zu Weihnachten in Paris gehört eine „Bohème“ und seit Menschengedenken ist das an der Opéra de Paris die Produktion von Jonathan Miller, die in den letzten zwanzig Jahren zehn Mal wiederaufgenommen wurde – stets zur allgemeinen Zufriedenheit. Doch nun wollte Intendant Stéphane Lissner eine radikale Neu-Inszenierung, die für viel Wirbel sorgt. Claus Guth – in Frankreich eher wenig bekannt – inszenierte die Oper dort, wo Puccini und Henri Murger (im Programmheft fälschlicher Weise „Henry Mürger“ geschrieben) es sich wahrscheinlich nie erträumt hätten: im Weltall. Der Abend beginnt in einem Raumschiff, wo ein Kosmonaut namens Rodolfo, den wir mit Schwierigkeiten atmen hören, per Computer folgende Zeilen schreibt: „Day 126 – 40°45’53“N 74 – Expedition in danger – engines inoperative – life-support resources almost exhausted – time is running out – water is rationed – (…) – last remants of humour – using our imagination – to evoke times long past.“ Und während die Kosmonauten ihre letzte Luft aushauchen laufen die Figuren aus ihrer Erinnerung über die Bühne, erscheint Mimi barfuss in einem roten Kleid, mit einer Kerze in der Hand und fängt die eigentliche Oper an. Ganz so umwerfend neuartig ist diese Interpretation also nicht, denn so kann man jede Oper inszenieren: als Traum oder – wir hier – als verblasste Erinnerung. Nur dann kommt unweigerlich der Punkt, an dem sich das Werk – und manchmal auch das Publikum – gegen das Regiekonzept sträubt. Und dann wird es kniffelig. Zum Glück strandeten das Raumschiff und das Regiekonzept erst im dritten Bild und wurde so wunderbar gesungen und musiziert, dass man geruht die Augen schließen konnte.

Gustavo Dudamel – bis dato in Frankreich nur mit dem venezolanischen Jugendorchester Simon Bolivar und den Jugendlichen des El Sistema aufgetreten – debütierte an der Pariser Oper. Sein Dirigat war eine der beiden Überraschungen des Abends. Dudamel brachte wirklich alles mit, was man sich von einem Bohème-Dirigenten wünschen kann. Zu Anfang zeigte er sich jung, keck, sogar humorvoll und im Verlauf des Abends wurde er immer elegischer und ließ der Musik, der anschwellenden Emotion und den Sängern allen nur möglichen Raum. Er dirigierte recht hoch, mit einer makellosen Technik und hielt so stets einen hundertprozentigen Kontakt zur Bühne, was ihm ermöglichte den Sängern zu folgen und sie zu Höchstleistungen anzuspornen. Es wurde gebremst wenn nötig und hohe Töne wurden so lang wie möglich ausgehalten, ohne dass die Gesangslinie verloren ging oder es je vulgär wurde.

So spielfreudig haben wir das Orchestre de l’Opéra de Paris seit langem nicht mehr gehört. Denn als Philippe Jordan vor acht Jahren die Zügel in die Hand nahm, hatte das Orchester während der ganzen Mortier-Zeit keinen Chefdirigenten gehabt und war in einem dementsprechend desolaten Zustand. Jordan hat beachtliche Wiederaufbauarbeit geleistet, doch er dirigiert in Paris oft wie eine Schweizer Uhr: vor allem darauf bedacht, alles gut zusammen „in Tempo“ zu halten. Dudamel nahm dagegen vieles viel entspannter und so auch musikalischer (er hat die „Bohème“ inzwischen schon in Berlin und Mailand dirigiert). Die Musiker liebten ihn und begrüßten ihn nach der Pause mit stürmischem Fußgetrommel – das haben wir in der Opéra Bastille noch nie gehört. Laut Insider-Berichten steht Dudamel nun auf der Wunschliste des Orchesters um die Nachfolge von Jordan anzutreten, wenn dieser 2020 an die Wiener Staatsoper wechselt.

Die andere große Überraschung des Abends war der Rodolfo des brasilianischen Tenors Atalla Ayan, der an diesem Abend auch an der Pariser Oper debütierte. Er sang seine erste Arie „Che gelida manina“ so wunderbar, so makellos, so zeitlos schön, dass das sehr unruhige Premierenpublikum (das schon angefangen hatte lautstark die Inszenierung zu kommentieren) mäuschenstill wurde und ein riesiger Applaus folgte (der in gewisser Weise den Abend rettete). Ayan, der 2010 im Lindemann Young Artists Development Program der Metropolitan Opera debütierte, hat den Rodolfo inzwischen schon an vielen Häusern gesungen, aber eben noch nicht an der riesigen Bastille Oper. Er forcierte nicht, er nahm sich Zeit, er phrasierte wunderbar – ein ganz erstaunliches Debüt von einem Sänger, der ohne Zweifel am Anfang einer großen Karriere steht. Das haben wir auch vor zehn Jahren über die damals völlig unbekannte Sonya Yoncheva geschrieben. Unglaublich wie sehr sich ihre Stimme entwickelt hat. Sie sang damals nur Barockmusik und gehört inzwischen zu der sehr kleinen Liga von Sängerinnen, die die große Opéra Bastille stimmlich mühelos füllen können.

Die Rolle der Mimi, die sie schon an der Scala und der Met gesungen hat, bereitete ihr keine Mühe, aber ergriffen hat sie uns nicht. Das lag/liegt wahrscheinlich an der Elisabeth im „Don Carlos“, die sie vor wenigen Wochen noch im gleichen Haus gesungen hat und die anscheinend ihre Stimme und Intonation etwas aus dem Lot gebracht hat (aber das lag vielleicht auch an der schwierigen Premiere und ist sowieso nur Klagen auf hohem Niveau). Die Stimme der Aida Garifullina hat es in der Opéra Bastille nicht leicht (so wie wir es schon bei ihrem hiesigen Debüt diesen Frühling als „Schneeflöckchen“ schrieben). Wahrscheinlich deshalb schuf der Bühnenbildner Etienne Pluss für die Arie der Musetta eine kleine Mini-Bühne in einem Silo, das ihren Gesang wunderbar verstärkte. Dort musste die arme Sängerin aber während ihrer einzigen Arie eine Art Table-Dance-Striptease vollziehen. Dies tat sie jedoch mit einer solchen Eleganz (im Französischen würde man „classe“ sagen), dass die Szene nicht ins peinlich Vulgäre abglitt. Der Rest der Besetzung war ohne Abstriche exzellent: Artur Rucinski konnte als Marcello dem fulminanten Rodolfo das Wasser reichen, Alessio Arduni war ein warm-timbrierter Schaunard und Roberto Tagliavini (den wir noch als Ramfis und Escamillo erinnern) ein tieftönender Colline. Die „comprimari“ kamen alle aus den exzellent durch José Luis Basso vorbereiteten Chor der Oper, der im „Café Momus“ angeführt wurde von einer lustigen Truppe Zirkuskünstler und einem „Zeremonienmeister“ Guérassim Dichliev, ein ehemaliger Assistent des Mimen Marcel Marceau – dessen zeitlose Poesie in dem gestrandeten Raumschiff mehr als willkommen war.

Musikalisch war es ein hervorragender Abend, trotz des sich schon nach wenigen Minuten ankündigenden Proteststurms. Denn das sogenannte „Regietheater“ ist in Paris viel weniger akzeptiert als in deutschsprachigen Ländern und das Pariser Publikum ist gefürchtet für seine bissigen und manchmal auch sehr geistreichen Bemerkungen, die mit einer Lachsalve jede Vorstellung aus der Bahn werfen können. Davon gab es nun den ganzen Abend mehr als ein dickes Dutzend – alle ausschließlich auf die Regie gerichtet. Der Regisseur gab schon am Vortag in einer Pressemeldung bekannt, dass er „mit heftigen Reaktionen auf seine radikale Neuinszenierung rechne“. Heftig war der Buhorkan, den man sogar noch außerhalb des Opernhauses hören konnte, auf jeden Fall; „Radikal“ war diese „Neuinszenierung“ keineswegs – sie verpuffte wie ein Schuss ins All.

Bilder (c) Bernd Uhlig

Waldemar Kamer 4.12.2017

Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online Paris

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Bis zum 31. Dezember in der Opéra Bastille (in wechselnden Besetzungen): www.operadeparis.fr