Stadtkirche, 14.7.2021
Die Stückwahl könnte nicht besser sein: 14 Stücke aus Bachs „Dritter Clavierübung“, gekoppelt mit einigen neuen Werken, die eigens zu diesem Anlass von den Lehrern jener Musikhochschule komponiert wurden, um die es am Abend geht. Denn die „Clavierübung“ ist keine Klavier-Sammlung, sondern das Kompendium für die Orgelmusik. Denn Bach legte 1739 eine einzigartige Sammlung von Choralbearbeitungen vor, die einfallsreicher nicht sein könnten. Wissenschaftlich ausgedrückt: „Der ganze Reichtum der musikalischen Stile, Formen und Satztechniken (…) offenbart sich nirgendwo in vergleichbar konzentrierter Weise wie in den Choralbearbeitungen der Klavierübung III.“ (Michael Kube) Dass man etwa die Hälfte der Stücke im Festkonzert zum 100jährigen Jubiläum kirchenmusikalischer Ausbildung der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern, ergo: für die Hochschule für evangelische Kirchenmusik, die idealiter auf die Gründung der einstigen Orgelschule zurückgeht, aufs Programm setzt, ist folgerichtig – auch wenn es sich bei den Orgelstücken Bachs streng genommen nicht um „Kirchenmusik“, sondern, wie Wagner gesagt hätte, um Musik eo ipso handelt, die auch ohne ihren liturgisch-geistlichen Urgrund und den unsinnigen Nachweis irgendwelcher theologischer Zahlenspielchen verständlich ist. Da aber die „KiMu“, wie sie kurz genannt wird, sich nicht als ideologische, sondern als ästhetisch-pädagogische Anstalt versteht, in der in erster Linie Musik und in zweiter Linie Musik fürs Gotteshaus gelehrt wird, und da Bachs Choralbearbeitungen geistliche Inhalte besitzen, der sich allerdings in der Musik, nicht in den nur mitzudenkenden als Texten äußert, war‘s die erste und beste Wahl. Schließlich sind ja mehr Musikfreunde als -praktiker ins Konzert gekommen, also jene „Liebhaber“, denen Bach die Sammlung zur „Gemüths Ergezung“ einst schenkte; der „Kenner“ aber saß an diesem Abend an der Orgel.
Matthias Neumann, Professor an der Hochschule, der gleichzeitig an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater lehrte und bis 2016 auf der Orgelbank an St. Marien Ohlsorf-Fuhlsbüttel saß, war 2012 Bach-Preisträger der Stadt Leipzig. Er spielt seinen Bach, indem er die Spielmöglichkeiten der Steinmeyer-Orgel exzessiv nutzt, ihr alle möglichen Farben entlockt und selbst beim spektakulären sechsstimmigen BWV 686 über Aus tiefer Not schrei ich zu dir die Übersicht behält. Im „Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart“, wie die Ankündigung lautet, stellt er den ausgewählten Stücken (es fehlen jene Nummern, die manualiter gespielt werden) die neun neuen Stücke entgegen. Bachs entwickelte Polyphonie stößt auf die mehr oder weniger verstörenden Klänge der Gegenwart. Vom glanzvollen Beginn der französischen Ouvertüre im Praeludium BWV 552/1 (an beiden Orgeln, also auch der Magdalenen-Orgel im Chor zu hören) über die fantasievollsten Umspielungen und Interpretationen der Choralthemen zum majestätischen Ausklang der Fuge BWV 552/2. Die Stückwahl ist schon deshalb ideal, weil Bach mit seinen Variationen, Bearbeitungen, Übermalungen und Erweiterungen eine Fülle von Charakteren entband: Hier die großen Ausbrüche des Kyrie BWV 671 (cum Organo pleno), dort die „Spezerey“ der Engelsmusik Allein Gott in der Höh sei Ehr BWV 675, die die Klangrede der Epoche Bachs in sanfte Flöten- und Holzbläsertöne taucht. Hier das sechsstimmige Prachtstück Aus tiefer Not schrei ich zu dir BWV 686 (in Organo pleno con Pedale doppio), dort die sich sanft steigernde Sechsachtel-Köstlichkeit Allein Gott in der Höh sei Ehr BWV 676. Die Möglichkeiten der Registrierung, Instrumentation und Färbung werden extensiv genutzt – klingt die erste Melodie in Wir gläuben all an einen Gott BWV 681 nicht wie ein Shofar? Oder so, wie man sich ein Kuhhorn vorzustellen pflegt?
Dazwischen: neun Ergänzungen, Variationsvariationen, Kommentare zu Gottvater Bachs Sammlung von 6 Lehrern der Hochschule (u.a. Thomas Albus, Victor Alcántara, Wolfram Graf und Marco Zdralek. Steven Heeleins Kyrie wurdelt sich im Bass hoch bis ins dreifache Forte, die dunkelsten und fahlsten Klangfarben der Orgel kommen in Einsatz (räumlich abgründig wie nur einige Passagen des Parsifal): bis hin zur Schluss-Attacke: Kyrie!! Sein …aus tiefer Not… hebt schließlich mit einem zwei Minuten langen, fast vollkommen statischen, monumentalen Cluster an, bevor einzelne leise Stimmen wie verloren durch den Raum rufen. Ähnlich pauschal klingt auch Johannes Brinkmanns Das 11. Gebot, aber was ist das 11. Gebot? Etwa (wie Robert Gernhardt meinte): Du sollst nicht lärmen? Oder eher: Du sollst gute Musik machen und / oder hören? Der metallische Grundsound erinnert zumindest an einen gepflegten Tinnitus. Auch so kann Orgelzauber klingen.
Mag sein, dass nicht alle Uraufführungsstücke in formaler und konzeptioneller Hinsicht neben Bachs ausgefuchsten und gleichzeitig schlicht und einfach musikalisch einfallsreichen Wunderwerken des einzigartigen Zyklus‘ bestehen können, aber welche Orgelwerke können das schon? Das Festkonzert bot insgesamt eine hinreißende Symphonie der klanglichen Schönheiten und der interessanten Formen.
Eben Musik an sich: mit der grandiosen Leistung eines Meisterorganisten.
Frank Piontek, 15.7.2021
Foto: ©Andreas Harbach