Premiere am 08.05.2014
Heiteres Wechselspiel statt Heldenepos
Händels Oper Xerxes aus seinem späten Londoner Opernschaffen kam dort nach der Uraufführung 1738 nur noch auf vier weitere Aufführungen und verschwand dann von der Bildfläche. Händel musste auf die Schnelle für das Theater am Haymarket ein älteres Stück zur Auffüllung der Spielzeit reaktivieren. Erst 1924 in der Göttinger Händel-Renaissance wurde Xerxes in einer deutschen Fassung wieder vorgestellt, gehört aber bis heute nicht zu den Rennern unter seinen Opern, obwohl das Werk mit dem Largo eines seiner bekanntesten Stücke überhaupt enthält. Aus diesem an sich träumerisch-friedlichen Larghetto „Ombra mai fu“, dem relativ kurzen Eröffnungsarioso der Oper, dem „Hit“ also ganz am Anfang, einer Pastoralmusik im typischen F-dur, machte Händels musikalische Nachwelt, 100 Jahre nach der Komposition und rund 100 Jahre vor der Wiederentdeckung der Oper das berühmte „Largo“, eine Trauermusik, die zu Händels berühmtesten Musikstücken überhaupt wurde.
Wie bei den meisten Barockopern verläuft das Spiel vor einem historischen herrschaftlichen Hintergrund mit einer quer dazu verlaufenden komplexen Beziehungsgeschichte. In Händels Serse spielt die historische, heldische Handlung allerdings im Gegensatz zu früheren Stücken kaum noch eine Rolle, sondern wird in den Rezitativen nur erwähnt (die Brücke über den Hellespont). Auch die Beziehungsgeschichte ist in Serse nicht als Handlungsstrang verfolgbar, sondern besteht aus einem nicht ganz leicht zu verstehenden Geflecht im steten Hin und Her von List, Eifersucht, Täuschung, Verkleidung und Verwechslung. Wahrscheinlich war Serse dem konservativen Publikum im damaligen London zu modern, dem modern ausgerichteten Publikum stofflich zu altbacken und hatte daher keinen Erfolg. Händel hat für Serse kein herzerweichendes Lamento (für die Damen) und auch keine flotte Jagdmusik (für die Herren) geschrieben, Markenzeichen früherer Opern. Serse ist gekonntes musikalisches Handwerk, aber berauscht aber nicht mit Arien wie in Giulio Cesare oder Alcina. Die einlullenden Da-capo-Arien mit ihren beruhigenden Ritornellen wichen kürzeren Arien und Ariosi, und italienischen Einflüssen folgend sollten buffoneske Einsprengsel auflockern.
Don Lee (Ariodate); Kinga Dobay (Serse)
Das Libretto (Autor unbekannt; wahrscheinlich hat Händel selbst daran mitgearbeitet) beschreibt eine frei erfundene amouröse Intrige von Personen, die teilweise bei Herodot vorkommen. Dort ist auch schon die Liebe des lächerlich gemachten Tyrannen zu einer geschmückten Platane und deren Schatten beschrieben. Xerxes ist mit Amastre verlobt, verliebt sich aber in Romilda und deren Gesang, die aber auch von seinem Bruder Arsamene begehrt wird, welcher wiederum ebenfalls von Romildas Schwester Atalanta geliebt wird. Vater dieser beiden ist der siegreiche Feldherr Ariodate, dem Xerxes verspricht, zur Belohnung für dessen Dienste eine seiner Töchter Tochter mit einer Person hohen Geblüts zu vermählen. Amastre erscheint als Mann verkleidet im Feldlager, da sie von Xerxes‘ Untreue erfahren hat und ihm nachspioniert. Als komische Figur bringt Xerxes‘ Diener Elviro zusätzliche Verwirrung ins kaum verfolgbare Hin und Her von Intrigen, Zweideutigkeiten und Missverständnissen des Spiels. Am Ende bleibt Romilda treu. Amastre gibt sich zu erkennen, Xerxes kehrt zu ihr zurück; Atalanta geht leer aus.
Edith Lorans (Romilda); Statisterie ("Pinguine")
Keine leichte Aufgabe für die Regie, Handlung und Nicht-Handlung, seria und buffa auszubalancieren, die wechselnde Befindlichkeits- und Stimmungslage der Protagonisten transparent zu machen und dazu das Werk auf eine heute verdaubare Länge zu kürzen. Da hat der Ulmer Opernchef und Regisseur Matthias Kaiser zunächst die Chöre gestrichen (wie auch anderenorts üblich). Die stimmlich gut abgegrenzten Charaktere hat er von seiner Ausstatterin Marianne Hollenstein in ebenso gut unterscheidbare, teilweise bizarre Kostüme stecken lassen, bei denen die Machtmenschen mit Attributen von Raubtieren versehen werden und der buffoneske Diener mit einem Pavian-Hintern versehen wird, den er publikumswirksam einsetzen darf. Ihr Bühnenbild bleibt dagegen weitestgehend abstrakt. Mit zum Teil rasend schnellem Wechsel der Kulissen, die über ein Dutzend Vorhangzüge sogar innerhalb der Arien wechseln und deren Zeichnungen nur leichte Andeutungen auf das jeweilige Ambiente enthalten, wird das schnelle Wechselspiel der Protagonisten abgebildet. Dabei bleibt die Bühne bis auf sporadische spärliche Möblierung vielfach leer, die Kulissen geben dem jeweiligen Geschehen eine in mehreren Horizonten scharf konturierte graphische Umrahmung, die von abrupten grellen Lichtwechseln (Marcus Denk) unterstrichen wird. Inspiriert ist die diese Art der Kulissenwechsel sicher vom barocken Zaubertheater. Aber die unterliegende Abstraktion verhilft hier nicht zu einem leichteren Verständnis des Geschehens, weshalb dringend empfohlen wird, sich vor der Aufführung Personen und Handlung einzuprägen.
J. Emanuel Pichler (Elviro); Kwang-Keun Lee (Arsamene)
Als weitere Projektion des Beziehungsschachs der Protagonisten hat die Regie vorn auf der Bühne neben einem Sessel ein vereinfachtes Schachbrett aufgestellt, auf welchem die Personen der Handlung gezogen und natürlich laufend umgruppiert werden; eine Dopplung durch große Puppen, den Absichten und Befindlichkeiten der jeweils Handelnden folgend. Mehr Transparenz wird aber auch durch diesen Regieeinfall nicht erzeugt. Der Bühnenprospekt ist hell und einfarbig in ganz verschiedenen Farben ausgeleuchtet, die nicht unbedingt der klassischen Farbenharmonie folgen. Die Figuren treten manchmal als schwarze Schatten scherenschnittartig von hinten auf, was insbesondere für zwei Figuranten zutrifft, die sich – als Pagen bezeichnet und Pinguinen ähnelnd – dienstbar machen und z.B. die kapriziöse Romilda auf einer fahrbaren Sänfte herumschieben. Die Bewegungsmuster und Gestik der Protagonisten leitet die Regie ebenfalls vom barocken Theater her, verzerrt sie ins Bizarre und ergänzt sie um tänzerische Elemente. Optisch ist das alles gut gelungen, aber es wirkt für Ungeübte nicht handlungsunterstützend, und vor Spannung knistert das Bühnengeschehen nicht. Zum Schluss sind Klapptische zum Mahl der Doppelhochzeit gerüstet … mit Camping- Wegwerfgeschirr. Für Humor bleibt also in den buffonesken Aspekten der Inszenierung genügend Raum. Zu Barockklamauk hat sich Regie indes nicht hinreißen lassen. Das Gesamturteil über die Regie fällt indes durchwachsen aus, denn die verschiedenen Inszenierungselemente vom Licht bis zum Tierischen und den Bewegungsmustern wollen sich nicht so recht zu einer Gesamtrichtung zusammenfinden.
I Chiao Shih (Amastre); Schachfiguren
Graben und Zuschauerraum sind durch einen mannshohen Bauzaun aus Armierungsmatten getrennt. Das Orchester ist gewiss keine Baustelle, und die tiernahen Figuren auf der Bühne neigen auch nicht zum Ausbrechen. Auch das Dirigat des Ersten Kapellmeisters Daniel Montané kam zunächst nicht überfliegerartig aus dem Graben. Die dreiteilige Sinfonia klang noch etwas undifferenziert durch den Gitterzaun; sehr zart und zurückgenommen wirkte das Larghetto, aber dann kam immer mehr Händel-Temperament und -Swing auf: federnder, extrem streicherbetonter Klang. Außer dem Continuo mit Theorbe, Cembalo, Cello und Fagott waren keine historischen Instrumente eingesetzt, so dass ein romantisierend vollerer Klang der Streicher des Philharmonischen Orchesters der Stadt Ulm dominierte. Solistisch schön herausgebracht waren die parodierenden Fagott-Passagen.
Mit der solistischen Besetzung des Abends konnte man durchaus zufrieden sein. In der Titelrolle begeisterte Kinga Dobay als Mezzosopran das Publikum. Zwar ist sie keine Barock-Spezialistin und bei der heutigen Aufführungspraxis wird meist ein Counter oder ein etwas viriler wirkende Sängerin bevorzugt, aber ihr opulenter Vortrag und ihr hingebungsvolles Spiel machten Abend aus. Ohne ihre KollegInnen herabwürdigen zu wollen, zeigte sie die bemerkenswerteste solistische Leistung des Abends, wobei sie in der Hosenrolle des „Königs der Löwen“ (in sandfarbener Kluft mit doppelter Mähne) ihre Weiblichkeit auch stimmlich ausspielte: glutvoller Mezzo, erotisierendes Vibrato in der Mittellage und leuchtende Linien in der Höhe. Ihre „legale“ Verlobten Amastre gab eine weitere Mezzosopranistin, die Taiwanesin I Chiao Shih mit samtiger Intonation, schönem Volumen und klarem Ausdruck. Edith Lorans sang am Premierenabend die Romilda. Welches Tier sie darstellen sollte, war nicht klar, wahrscheinlich einen Fisch, superschlank und kalt in Blau wie ein solcher? Durchwachsen zeigte sich ihr Sopran mit verzerrender Schärfe in hohen Lagen und dadurch schlechter Textverständlichkeit, aber schöner Beweglichkeit und Geschmeidigkeit in den Koloraturen der Mittellage. Ihre Schwester Atalanta war mit dem zweiten Sopran des Abends besetzt. Katarzyna Jagiełło sang sie mit feinem, klarem Barocksopran und gefiel mit den leicht ansprechenden Koloraturen.
Kinga Dobay (Serse); Kwang-Keun Lee (Arsamene)
Den vier Frauenstimmen standen drei tiefe Männerstimmen gegenüber. Die größte Rolle unter ihnen hatte J. Emanual Pichler in der komischen Rolle des Dieners Elviro. Als ihn das Geschehen über den Kopf stieg nahm er Zuflucht zum Alkohol: „Wasser (trinken) ist schädlich!“ Die Regie stellt hier eine fantasievolle Figur auf die Bühne: schauspielerisch stark gefordert, handlungstreibend und nicht kontemplativ sang Pichler die Rolle mit kräftigem hellem Bariton. Die zweite Baritonpartie, die des Arsamene war mit Kwang-Keun Lee besetzt; als zotteliger Brummbär ausstaffiert, sang er die Rolle mit bestens fokussierter und höhenstarker Stimme mit sonorem klangstarkem Fundament. Sein Landsmann Don Lee, als Bass für den Feldherrn Ariodate besetzt und als einziger mit seinem an ein Kettenhemd gemahnendem Kostüm einigermaßen funktional eingekleidet, konnte stimmlich nicht in nicht in gleicher Weise überzeugen. Zwar verfügt er über ein kräftiges, schwarzes Bass-Fundament, aber in den höher liegenden Passagen blieb er eindimensional ohne Schmelz.
Für den amüsanten und abwechslungsreichen Abend bedankte sich das Auditorium aus dem vollen Saal mit lang anhaltendem herzlichem Beifall für alle Beteiligten. Die nächste Vorstellung findet am 15. Mai statt; dann kommt Serse noch weitere elf Mal bis zum 20. Juli.
Manfred Langer, 11.05.2014
Fotos: Jochen Klenk