Bericht von der Aufführung am 5. November 2017, (Premiere am 28. Oktober 2017)
Musikalisch beeindruckend, szenisch unverkrampft
In der Pause raunt der ältere Herr seinem jüngeren Begleiter zu, daß er die „Manon“ von Puccini bevorzuge. In der Version von Massenet fehle ihm das Italienische, das Süffige. Wir dagegen sind dem Staatstheater Wiesbaden dankbar dafür, daß es statt eines mittelmäßigen frühen Puccini einen reifen, ausdifferenzierten Massenet präsentiert. Zu erleben ist ein Abend, der musikalisch rund, mitunter sogar regelrecht beglückend ist, und der szenisch eine leicht ironische Distanz zu seinem Sujet hält, die dem Stück gut steht.
Das Orchester präsentiert sich in großer Form. Jochen Rieder als Gastdirigent scheint einen guten Zugang zu den Musikern gefunden und gründlich geprobt zu haben. Das Ergebnis ist ein farbiger, duftiger Klang mit französischem Esprit, der vom ersten Takt an Freude bereitet. Die Freude steigert sich noch beim ersten Auftritt der Hauptfigur: Christina Pasaroiu erweist sich als Idealbesetzung der Manon. Sie gestaltet die Partie sängerisch und schauspielerisch hinreißend. Dabei gelingt es ihr, die Entwicklung der Figur musikalisch restlos überzeugend zu gestalten: Mit mädchenhaft-naivem Ton zu Beginn, schwärmerisch im zweiten Akt und kapriziös im dritten Akt, wo sie souverän mit den Koloraturen der Partie spielt, schließlich abgeklärt am Ende.
Ihr zur Seite steht das Ensemblemitglied Ioan Hotea. Sein wie stets unter emotionalem Hochdruck stehender, draufgängerischer Tenor ist bei der Rolle des „Des Grieux“ viel besser aufgehoben als bei den Mozart-Partien vergangener Spielzeiten. Gelegentlich nimmt er es mit den Tonhöhen nicht so genau, überzeugt aber mit seiner Spielfreude und wagt es auch immer wieder, sich dynamisch zurückzunehmen. Die Stimme steht in vollem Saft. Seine Neigung, im Gefühlsüberschwang an exponierten Stellen einzelne Töne anzuseufzen, muß man wohl als Personalstil hinnehmen. Mit seinem kernigen Bariton kann auch Christopher Bolduc als „Lescaut“ überzeugen. Das Produktionsteam scheint sich über diese Figur ein wenig lustig zu machen, indem es ihn in Skinny-Jeans und auf Plateausohlen als Macho-Karikatur über die Bühne staksen läßt.
Bühnen- und Kostümbildner Friedrich Eggert hat die Szene in die Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts verlegt, irgendwo zwischen die 50er und 60er Jahre. Die Farben der Kostüme sind dabei so bunt geraten, daß man sie als „neo-fauvistisch“ bezeichnen muß. Das Bühnenbild verleugnet seine Kulissenhaftigkeit nicht. Von den gezeigten Räumen wird mitunter nur genau der Ausschnitt gezeigt und in den Bühnenraum hereingeschoben, in dem auch Handlung stattfindet. Dabei wird dem Textbuch keine Gewalt angetan: Das Liebesnest im zweiten Aufzug ist stimmig als Dachgeschoßwohnung gezeichnet, der zum Priester geweihte Des Grieux wird im dritten Akt von Manon realistisch in einer Sakristei aufgesucht, der Spielsalon im vierten Akt ist ein Unterwelt-Hinterzimmer. Sehr geschickt und ganz im Sinne der Musik ist der Beginn des dritten Aktes gelöst: Wenn im Orchestergraben barocke Tänze erklingen, zeigt die Bühne barocke Kostüme. Die Musik kostümiert sich und zitiert eine vergangene Epoche, also tut es ihr die Ausstattung gleich.
Bernd Mottl weiß diese Spielwiese mit seiner abwechslungsreichen und lebendigen Regie gut zu nutzen. Seine Personenführung erweist sich als sehr musikalisch, indem sie den Rhythmus der Musik immer wieder regelrecht choreographisch aufnimmt. Aktionen, Gesten und Blicke sind durchweg musikalisch motiviert.
Der von Albert Horne einstudierte Chor gibt wie zuletzt in „Schönerland“ ein musikalisch überzeugendes Bild ab und hat sichtbar Spaß an den ihm von der Regie zugedachten kleinen Massenchoreographien. Zusammen mit den typgerecht aus dem Ensemble besetzten Nebenrollen ergibt sich ein stimmiges, rundes Bild einer sehens- und vor allem hörenswerten Produktion, deren Besuch man vorbehaltlos empfehlen kann.
Weitere Vorstellungen gibt es am 26. November sowie am 10. und 15. Dezember.
Michael Demel, 18. November 2017
Bilder siehe untere Besprechung!