Mit der 1986/87 entstandenen Oper auf ein Libretto von Alexander Medwedew unternahm der sowjetische Komponist polnisch-jüdischer Abstammung den Versuch, einen 700 Seiten umfassenden Roman zu vertonen. Durch Straffung ist ihm das – meiner Meinung nach – besser gelungen als vor ihm Prokofjew mit seiner monströsen Oper „Krieg und Frieden“. Der Antiheld des Romanes wie der Oper ist der von Epilepsie geplagte 26jährige Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin, der nach einem langen Sanatoriumsaufenthalt in der Schweiz nach St. Petersburg zurückkehrt.
Als weltfremder Sonderling ähnelt er in seinem Verhalten der tragischen Figur des Don Quijote, ein „Gutmensch“, der von allen als „Gottesnarr“, als „Idiot“ belächelt wird. In einer Art Zeitschleife entwickelte der Komponist Weinberg und ihm folgend Regisseur Vasily Barkhatov den Roman in vier Teilen mit zahlreichen Rückblenden. Verbindendes Glied dabei ist ein Eisenbahnwagon, der immer wieder gedreht die verschiedenen Handlungsorte kennzeichnet. In eben diesem Zug lernt Myschkin den Kaufmann Parfjon Semjonowitsch Rogoschin und den Beamten Lukjan Timofejewitsch Lebedew kennen. Rogoschon zieht Myschkin in ein von Leidenschaften beherrschtes trio infernal mit Nastassja Filippowna Baraschkowa, einer sozial ausgegrenzten Lebedame, mit der er tiefes Mitleid empfindet. Diese ist die Geliebte des reichen Großgrundbesitzers Tozki, der sie mit Ganja Iwolgin verheiraten möchte. Myschkin aber liebt Aglaja, eine der drei Töchter von General Iwan Fedorowitsch Jepantschin, eines entfernten Verwandten. Myschkin kann nicht verhindern, dass Rogoschin in einem Anfall von Wahnsinn Nastassja ersticht, die Myschkin eben noch heiraten wollte, wird dieser wahnsinnig und bricht zusammen. Der russische Regisseur Vasily Barkhatov schälte die Handlung aus der zaristischen Vergangenheit heraus, zumal sie ja völlig zeitlos ist und schilderte sie nachvollziehbar in anschaulichen Bildern. Im optischen Zentrum des sich drehenden Bühnenbildes von Christian Schmidt steht ein Eisenbahnabteil, einmal im Vordergrund, dann wieder im Hintergrund, wenn vorne einige Möbel aufgestellt werden.
Die Fenster des Zuges fungieren aber auch als Bildschirme für Videos von Christian Borchers, die mit vorbeiziehenden, verschneiten Landschaften die endlosen Weiten Russlands vermitteln wollen, dann wieder die beiden Rivalinnen Nastassja und Aglaja zeigen. Die Kostüme von Stefanie Seitz sind der Gegenwart verpflichtet. Die Lichtregie von Alexander Sivaev sorgte für eine spannende Umsetzung des Geschehens. Die Beziehungsunfähigkeit und Besessenheit der Protagonisten führt zu ihrer seelischen Verwundung, die der Regisseur Vasily Barkhatov äußerlich effektvoll als Tätowierungen an Armen, Beinen und Rücken zeigt. Dirigent Thomas Sanderling, der Weinberg in Moskau getroffen hatte, konnte bereits die Uraufführung des „Idioten“ am 9. Mai 2013 am Nationaltheater Mannheim leiten. Er kann sohin als Garant für eine werkgetreue Umsetzung der musikalischen Ideen von Weinberg auch am Pult des ORF Radio-Symphonieorchester Wien angesehen werden. Dmitry Golovnin hat die Rolle des Myschkin schon bei der Uraufführung in Mannheim gesungen. In weißer Hose und hellem Mantel hält er eine ebenso helle große Reisetasche wie zur Abwehr stets an sich gedrückt. Mit seinem starken, gut geführten Heldentenor empfiehlt er sich für weitere Partien dieses Faches. Mit den großen Augen eines Kindes betrachtet er seine Umgebung lächelnd, dann wieder verzweifelnd. Zwei Frauen buhlen um seine Gunst (die Opernliteratur ist voll von diesen Archetypen): Ekaterina Sannikova war eine verführerische und selbstbewusste Nastassja mit leider in hohen Lagen schneidend scharfem Sopran, sie singt auch im ersten Teil eine Habanera im Stil von Carmen, während ihre Kontrahentin in der Gunst um Myschkin, Aglaja, von Ieva Prudnikovaité mit wohlklingendem Mezzo gesungen wurde und für den Don Quijote Myschkin eine Art Dulcinea darstellt.
Dmitry Cheblykov stattete den eifersüchtigen Rogoschin mit kraftvollem Bariton aus und Petr Sokolov gesellte zu seiner ungeheuren körperlich-artistischen Präsenz als schurkischer Lebedjew auch einen handverlesenen Charakterbariton. Ksenia Vyaznikova als gelangweilte Jelisaweta Prokofjewna Jepantschina und Tatjana Schneider als Alexandra, Mutter und Schwester von Aglaja, warteten gesanglich mit kurzen, aber einprägsamen Momenten auf. Dazu gesellte sich noch als dritte Tochter die Schauspielerin Bernadette Kizik in einer stummen Rolle als Adelaida. In kleineren Rollen ergänzten noch rollengerecht der Bassist Valery Gilmanov als General Jepantschin, als dessen Sekretär der lettische lyrische Tenor Mihails Čuļpajevs als Ganja Iwolgin, sowie die litauische Sopranistin Kamile Bonté als Warja, seine Schwester und Bassbariton Alexey Dedov als Großgrundbesitzer und ehemaliger Liebhaber Nastassjas Afanassi Iwanowitsch Totzki. Mennan Bërveniku fungierte als Bühnenmusiker auf einem Klavier, wo er Walzerklänge zum Besten gab, bis Nastassja schließlich ein Geldbündel von 100.000 Rubel anzündet, hineinwirft und den geldgierigen Lebedjew auffordert, dieses aus den Flammen zu retten.
Der Arnold Schönberg-Chor unter Erwin Ortner wirkte hier nur am Rande als reiner Männerchor der Bürger aus Rostow mit. Bei einer Gesamtzeit von Dreidreiviertel Stunden Spielzeit war das Publikum trotz der expressiven Farbigkeit der Musik Weinbergs ziemlich gefordert. Leitmotive kennzeichnen alle mitwirkenden Personen und exotische Instrumente wie Celesta, Marima, Glockenspiel und Xylophon veredelten das Klangspektrum dieser Oper. Nach der Pause gab es einen sichtlichen Zuschauerschwund. Der verbliebene Teil des Publikums wurde aber mit einer durchwegs ansprechenden unbekannten Oper eines ganz großen Komponisten des vergangenen Jahrhunderts belohnt, von dem man gerne mehr hören und sehen würde. Starker Applaus mit zahlreichen Bravorufen entließen das gesamte künstlerische Personal in die wohlverdiente Nachtruhe.
Harald Lacina, 4. Mai 2023
Der Idiot
Mieczysław Weinberg
Theater an der Wien
Vorstellung 3. Mai 2023
Regisseur: Vasily Barkhatov
Dirigent: Thomas Sanderling
ORF Radio-Symphonieorchester Wien