Sie ist schon eine der besten Produktionen, die sich derzeit auf dem Spielplan der Staatsoper Stuttgart befinden: Mozarts Don Giovanni in der Inszenierung von Andrea Moses sowie dem Bühnenbild und den Kostümen von Christian Wiehle.
Seit einiger Zeit ist diese hochkarätige Inszenierung in der Württembergischen Landeshauptstadt nun wieder zu sehen. Ein wenig mag der Zahn der Zeit zwar an Frau Moses‘ Regiearbeit genagt haben, das hinderte diese aber nicht daran, trotz allem eine großartige Show zu sein. Dass die Regisseurin eine Meisterin ihres Fachs ist, war immer noch gut nachzuvollziehen. Neben ernsten weist ihre Herangehensweise an Mozarts Werk auch vielfältige heitere Momente auf. Der Spagat zwischen ernsthaften und lustigen Elementen gelingt ihr vortrefflich. Seria- und buffa-Aspekte fügen sich nahtlos zu einer famosen Einheit zusammen und ergeben ein Ragout von ausgeprägter Eleganz. Tschechow’sche Elemente und Brecht’sches Gedankengut verstärken noch den trefflichen Eindruck, den man von der Inszenierung erhält. Donna Elvira hat ihren ersten Auftritt aus dem Zuschauerraum heraus und auch der Titelheld darf einmal durch eine Parketttür abgehen. Eindrucksvoll gelingt es Andrea Moses auf diese Weise, die vierte Wand zu durchbrechen und die Grenze zwischen Bühne und Publikum fließend zu machen. Die Aussage ist klar: Die auf der Bühne thematisierten Konflikte gehen uns alle etwas an.
Geschickt verortet die Regisseurin das Geschehen in der Gegenwart. Beim Heben des Vorhangs erblickt man ein im Eigentum Don Giovannis stehendes zweistöckiges Hotel mit Bar, zwei Garagen, einigen Verbindungstreppen zwischen den einzelnen Etagen sowie einsehbaren Gästezimmern. In diesem Rahmen wartet Frau Moses mit eindringlichen Personenzeichnungen auf. Prägnant lotet sie die zwischenmenschlichen Beziehungen aus. Den Protagonisten verleiht sie scharfe Profile. Don Giovanni deutet sie als nicht mehr ganz taufrischen Geschäftsmann mit elegantem Pelzmantel und Hut. Sein Interesse an dem weiblichen Geschlecht hat sich etwas verflüchtigt, sein Image als Verführer haftet ihm aber nach wie vor an. Ununterbrochen ergehen sich die Frauen in amourösen Attacken auf ihn, wobei ein frappierender Perspektivwechsel stattfindet. Die Grundpfeiler von Andrea Moses‘ Konzeption bilden Ödon von Horvaths Interpretation des Don-Juan-Stoffes und die Lehren Ludwig Feuerbachs.
Die Regisseurin setzt bei den Damen an, die Don Giovanni gleichsam aus ihrem Inneren heraus gebären. Wie in Horvaths Stück ist die Titelfigur hier ebenfalls als Projektion der Frauen aufzufassen. Donna Anna, Donna Elvira und Zerlina hadern mit ihrem jeweiligen Geschick und projizieren ihre ganz persönlichen Sehnsüchte und Wunschträume auf dieses Phantasieprodukt, das den Namen Don Giovanni trägt. Donna Anna wünscht sich eine romantische Liebe. Diese sucht sie indes bei dem reichlich schwach wirkenden Don Ottavio, der sich bereits während der ausinszenierten Ouvertüre in der Bar des Hotels in Anwesenheit Leporellos und des Barkeepers Masetto gnadenlos betrinkt und schließlich einschläft, vergebens. Donna Elvira bevorzugt geordnete Verhältnisse. Sie sucht ihr Glück in dem sicheren Hafen der Ehe. Zerlina wird von Andrea Moses als ausgesprochen freches, ausgekochtes Luder vorgeführt, das wahrlich nicht auf den Mund gefallen ist und ganz genau weiß, was es will. Sie strebt danach, in die höheren Stände aufzusteigen und erhofft sich dabei die Hilfe Don Giovannis.
Masetto behandelt sie dabei nicht stets wie eine zärtlich liebende Braut. Oft fügt sie ihm Schmerzen zu. Fast könnte man den Eindruck gewinnen, dass sie das sogar gerne tut. Keine der drei Damen will von dem Titelhelden nur das eine. Sie nutzen ihn gnadenlos zu egoistischen Zwecken aus. Das, was sich Don Giovanni von den Frauen erhofft, wird belanglos. Vielmehr ist entscheidend, was diese sich von ihm erwarten. Feuerbachs Projektionsgedanke bildet für Anna, Elvira und Zerlina das letzte Mittel, einer drohenden starken Identitätskrise und einem nahenden Persönlichkeitsverlust noch zu entgehen. Hier kommt neben Horvath auch Sigmund Freud Bedeutung zu.
Der nicht mehr ganz junge Verführer wird von der Regisseurin als letztlich einsamer Mensch verstanden. Sein Wesen setzt sich aus denjenigen der anderen beteiligten Personen zusammen, deren Charaktereigenschaften er reflektierend in sich bündelt. Seine Funktion für die Damen deutet Frau Moses als Maske, hinter der er sein Ich verbirgt. Hier ist er weniger Täter als vielmehr Opfer. Von seinen in hohem Maße egoistisch handelnden Angebeteten kann er sich keine Hilfe erhoffen. Kurioserweise wird ihm diese letztlich vom Commendatore angeboten, der Don Giovannis Tötungsattacke im ersten Akt schwer verletzt überlebt hat. Dieser lehnt aber ab. Aus diesem Grund kann Annas Vater, dem Andrea Moses die Funktion eines Psychotherapeuten zuweist, ebenfalls kein Erfolg beschieden sein. Das gilt indes nicht nur für ihn.
Sämtliche lediglich auf sich selbst fixierte Gegenspieler der Titelfigur stehen am Ende notwendigerweise als Verlierer da. Von der Fähigkeit, Beziehungen zueinander aufzubauen und sich gegenseitig als Stütze zu dienen, kann bei ihnen keine Rede mehr sein. Schmerzlich muss Don Giovanni in seiner Funktion als Spiegel der Gesellschaft die Nichtrealisierbarkeit eines auf reiner Menschlichkeit fußenden Kollektiv-Egos realisieren und geht aus diesem Grund freiwillig in den Tod. Nachdem er bereits kurz zuvor von Leporello in den Arm geschossen wurde, setzt er sich die Pistole nun selbst an die Schläfe und drückt ab. Mit seinem Tod ist den übrigen Handlungsträgern die Lebensperspektive genommen. Ihre Wiederbelebungsversuche scheitern. Wenn sie den Toten mit Kränzen bedecken und sich zuletzt über seinen Hut streiten, ergibt sich zweifellos, dass er die alles bestimmende Triebfeder ihrer Existenz war, ihr-Fix- und Lebensmittelpunkt, um den sie ständig kreisten und der ihrem Dasein erst einen tieferen Sinn verleihen konnte. Das gilt nicht nur für die Frauen, sondern in gleichem Maße ebenfalls für die Männer. Die Moralpredigt des Ensembles, mit dem die Oper endet, ist nur noch Schein. Sie verkommt zu einer bedeutungslosen leeren Hülse. Der Jubel einer in ihrer engen bürgerlichen Vorstellungswelt erstarrten Spießergesellschaft ist nur noch Schall und Rauch. Zwar nahm Don Giovanni als Zentrum des Daseins der anderen Protagonisten letztlich fatale Dimensionen an. Dennoch war er für sie lebenswichtig. Das hat Andrea Moses alles sehr gut durchdacht. Die szenische Leitung der Wiederaufnahme lag bei Rebecca Bienek.
Am Pult erzeugte die junge chinesische Dirigentin Yi-Chen Lin zusammen mit dem trefflich disponierten Staatsorchester Stuttgart einen gediegenen, kammermusikalisch angehauchten, transparenten und ebenmäßig dahinfliessenden Klangteppich von großer Eleganz.
Fast durchweg zufrieden sein konnte man mit den gesanglichen Leistungen. Eleomar Cuello war mit gut sitzendem und facettenreichem Bariton sowie intensivem Spiel ein guter Vertreter des Don Giovanni. Übertroffen wurde er von Michael Nagl, der mit wunderbar sonorem, tiefgründigem und bestens italienisch geschultem Bass in der Partie des Leporello brillierte. Ebenfalls mit herrlichem italienischem Stimmfluss, kraftvoller Tongebung und intensivem Spiel verlieh die Mezzosopranistin Diana Haller der Donna Elvira ein glaubwürdiges Profil. Einen trefflich fokussierten, ebenmäßig dahinfliessenden und höhensicheren Sopran brachte Sarah-Jane Brandon in die Rolle der Donna Anna ein. Mächtiges Bass-Material zeichnete den Commendatore von Adam Palka aus. Shannon Keegan war eine angenehm singende Zerlina. Neben ihr gab Andrew Bogard mit tadellosem Bass-Bariton einen gefälligen Masetto. Weniger zu gefallen vermochte Kai Kluges recht maskig klingender Don Ottavio. Er war der einzige, der an diesem Abend nicht im Körper sang. Der von Bernhard Moncado einstudierte Staatsopernchor Stuttgart machte seine Sache gut.
Ludwig Steinbach, 3. Mai 2023
„Don Giovanni“
Wolfgang Amadeus Mozart
Staatsoper Stuttgart
Premiere: 25. Juli 2012
Besuchte Aufführung: 21. Mai 2023
Inszenierung: Andrea Moses
Bühnenbild und Kostüme: Christian Wiehle
Musikalische Leitung: Yi-Chen Lin
Staatsorchester Stuttgart