Premiere am 22.09.22
Das Stuttgarter Ballett zu Gast in Berlin
Im Tempodrom präsentierte das Stuttgarter Ballett auf Einladung der Deutschen Oper und des Berliner Staatsballetts seinen neuen Abend Pure Bliss. Er vereint drei Arbeiten des schwedischen Choreografen Johan Inger, die zwischen 2002 und 2022 entstanden. Neueste Kreation ist Aurora’s Nap, die eigens für Stuttgart geschaffen wurde und dort am 5. Februar dieses Jahres zur Uraufführung kam. In Berlin stand sie am Schluss des Programms und war zweifellos auch dessen Höhepunkt. Das Stück ist eine witzige Parodie auf Tschaikowskys The Sleeping Beauty in der Originalchoreografie von Marius Petipa. Einige der von ihm erdachten Figuren finden sich in Ingers Version wieder, so die Variationen der Feen im 1. Akt (hier Violante, Canary und Candide genannt) oder Auroras Rosen-Adagio im 2. Akt. Insgesamt sind alle wichtigen Szenen der Handlung vertreten, so dass diese sich für jeden Zuschauer verständlich darstellt. So wie der Choreograf klassischen Tanz virtuos mit modernen Elementen verbindet, hat er auch als Bühnenbildner gemeinsam mit Salvador Mateu Andujar und Fabiana Piccioli in die Ausstattung eine ironische Komponente eingebracht – eine Schlossfassade mit Toren, Treppenpodesten und zwei raketenartigen Türmen aus aufblasbarem grauem Kunststoffmaterial. Bei Auroras Stich am Rosendorn geraten die beiden Türme gar in Schieflage, richten sich aber beim Kuss des Prinzen glücklicherweise wieder auf. Auch als Kostümbildner spielt Salvador Mateu Andujar gekonnt mit den stilistischen Mitteln der verschiedenen Zeitebenen – höfische Pracht mit reichem Goldschmuck trifft heutige Alltagskleidung.
Die Aufführung beginnt brillant mit dem Auftritt des Haushofmeisters Catalabutte (Alessandro Giaquinto), der virtuos das Orchester der Deutschen Oper Berlin leitet und dabei dem wirklichen Dirigenten Wolfgang Heinz assistiert. Nach dem klassischen Spitzentanz der Feen in bunten Teller-Tutus (Daiana Ruiz, Rocio Aleman, Mori) tritt unter Donner und Blitz die Carabosse im schwarzen Plissee-Röckchen und mit hoch getürmter grauer Perücke auf (Anna Osadcenko). Energisch gibt sich die Fliederfee von Agnes Su. Aurora hat ihren ersten Auftritt beim Walzer. Elisa Badenes, ein Star der Compagnie, findet die ideale Verbindung zwischen Bravour und modernem Gestus. Ersteres beweist sich im anspruchsvollen Rosen-Adagio, bei dem viele Figuren der Originalchoreographie übernommen wurden. Einzelne Episoden aus dem Divertissement (Gestiefelter Kater/Rotkäppchen/Blauer Vogel, alle verkörpert von Vittoria Girelli) werden nur gestreift, ohne dass die Figuren tänzerisch in Aktion kommen. Friedemann Vogel, der Superstar des Ensembles, kommt als Prinz Desiré im schwarzen Anzug auf einem Roller hereingefahren, begleitet von einer Schar ausgelassener junger Leute. Er wirkt zunächst schüchtern und verklemmt, befreit sich aus seiner Befangenheit erst beim schier endlosen Kuss. Das glückliche Ende wird von einer Diskokugel und Papierschlangenfeuerwerk illustriert, aber Inger überrascht danach noch mit einem gänzlich anderen Stilmittel. Zum finalen Pas de deux, eingespielt wie von einer alten Grammophon-Schallplatte, erscheinen Aurora und der Prinz fast nackt in hautfarbenen Trikots und bringen die Nummer als zeitgenössisches Tanzduo.
Ob der Abend wirklich „reine Glückseligkeit“ bescherte, wie es der Titel versprach, mag jeder Zuschauer selbst entscheiden. Ich fand den ersten Teil, Bliss, recht beliebig. Inger hatte sich von Keith Jarretts legendärem Köln Concert inspirieren lassen und für acht Paare eine temporeiche Choreografie geschaffen. Es gibt darin aber auch Momente des Verharrens, bei denen de Spannung abfällt, und profane Bewegungsfloskeln wie beim Reha-Sport. Folklore-Zitate und Posen aus dem klassischen Ballett bringen reizvolle Episoden ein. In temperamentvoller, lebensbejahender Stimmung gibt es gegen Ende eine Steigerung, bis die Tänzer die Bühne verlassen und nur einer in Gedanken versunken zurückbleibt.
Das Mittelstück war Out of Breath betitelt und 2002 für das Nederlands Dance Theater II entstanden. Die dramatische Geburt seines ersten Kindes hatte Inger zu dieser Arbeit inspiriert, welche die schmale Grenze zwischen Leben und Tod aufzeigen soll. Als musikalische Folie dienen kammermusikalische Kompositionen von Jacob Ter Veldhuis und Félix Lajkó, die von sechs Solisten live musiziert wurden, angeführt von Sebastian Klein an der Solo-Violine mit gleichermaßen sphärischem wie expressivem Duktus. Drei Tänzerpaare (darunter der Erste Solist Jason Reilly) rennen verzweifelt gegen eine schräge weiße Wand an (eine Skulptur von Mylla Ek, die auch die Kostüme entwarf), versuchen, diese zu erklimmen. Es sind Zustände der Angst und Ohnmacht von beklemmender Wirkung. Aber auch hier gibt es choreografischen Leerlauf, wenn die Tänzer endlose Runden drehen müssen. Das Stuttgarter Ballett zählt zu den renommierten Compagnien in Europa, aber das Gastspiel hat auch gezeigt, dass das Staatsballett Berlin in dieser Riege souverän mitspielen kann.
Bernd Hoppe