Ein Klassiker – neu gesehen
Über 40 Jahre alt ist John Neumeiers Choreografie zu Tschaikowskys Ballett Dornröschen. 1978 kam sie beim Hamburg Ballett in der Ausstattung von Jürgen Rose heraus. Damals gab es in der Besetzung noch die Gute und die Böse Fee – angelehnt an die klassische Vorlage, wo die beiden Rollen die Namen Fliederfee und Carabosse tragen. Nun hat der Choreograf das Stück überarbeitet und seine Neufassung, wiederum von Jürgen Rose ausgestattet, am 19. 12. 2021 in der Staatsoper dem Premierenpublikum vorgestellt. Die Rollen sind jetzt umbenannt in Die Rose und Der Dorn, womit Neumeier sich auf den Stücktitel mit seinen zwei Begriffen bezieht. In ersterer Partie hatte die Grande Dame der Compagnie, Hélène Bouchet, ihren letzten Premierenauftritt. Die langjährige Erste Solistin beendet ihre Tanzkarriere und geht zurück nach Frankreich. Noch einmal konnte sie mit eleganter Allüre und bestechendem technischem Format imponieren. Matias Oberlin im hautfarbenen Ganzkörpertrikot gab den Dorn mit verführerischer Laszivität. Beim Rosenfest zu Auroras 16. Geburtstag ist er auch der geheimnisvolle, schwarz verhüllte Ägyptische Prinz mit der verhängnisvollen Rose, die er Aurora fast gewaltsam aufzwingt. Seine Szenen sind furios, auch weil die Begleiter, Aleix Martinez, David Rodriguez und Ricardo Urbina als Dornengestalten, mit bizarr verkrümmten Körperhaltungen effektvolle Momente beisteuern.
Wie schon 1978 ist Prinz Désiré ein junger Mann von heute in Jeans und schwarzem Hemd, womit der Choreograf die Verbindung zur Gegenwart herstellt. Diese Kombination findet sich auch in der Choreografie, die eine ausgewogene Mischung aus Petipas klassisch-akademischem Stil und Neumeiers eigenen Erfindungen darstellt. Im Programmheft findet sich eine informative Aufstellung, in welcher Choreografie die einzelnen Musiknummern gezeigt werden. Neumeiers Anteil überwiegt nur leicht den der historischen Vorlage. Mit Alexandr Trusch war die männliche Hauptrolle optimal besetzt. Seine jugendliche Aura und vor allem das sensationelle technische Vermögen sorgten immer wieder für akklamierte Höhepunkte. In einer neu eingefügten Szene zu Beginn des 2. Teiles sieht man ihn ausgelassen mit seinen dem Bier nicht abgeneigten Jagdfreunden, doch er setzt seine Suche nach dem schlafenden Mädchen fort. Das Tanzduo beim Finden des Paares ist in seiner träumerischen Atmosphäre, die bis zur Trance führt, ein starker Stimmungskontrast. Die neue Erste Solistin Ida Praetorius, aus Kopenhagen kommend, gab in der Titelrolle ihr Debüt in Hamburg. In ihrer Anmut und Zartheit war sie optisch eine Idealbesetzung, tänzerisch kann man ihr eine solide, doch keineswegs spektakuläre Leistung attestieren. Der Auftritt geriet im Tempo etwas verhalten, die grand jétés wirken recht flach und die Balancen im Rosen-Adagio wurden nicht mit letzter Sicherheit ausgeführt. In den Duos mit Désiré konnte sie sich stärker profilieren, vor allem im Grand Pas de deux beim Hochzeitsfest, wo sie mit einer graziösen Variation punktet und Trusch in der seinen mit stupender Bravour begeistert. Er sorgte auch für den Atem beraubenden Schlusspunkt, denn Neumeier hat das Finale: Allegro brillante, das normalerweise allen Mitwirkenden gehört, ihm allein zugeordnet. Mit einem fulminanten Wirbel, einer geradezu unwirklichen Serie von Sprüngen à la manège versetzte er das Publikum in den Zustand der Euphorie. Danach nutzt der Choreograf ein Symphonisches Zwischenspiel des Komponisten, um die Handlung zum Prolog zurückzuführen. Désiré findet sich im Wald wieder und sieht das schlafende Mädchen auf einer Bank – in einem Kleid heutiger Mode.
Bemerkenswert in Neumeiers Fassung ist auch die deutliche Aufwertung des Hoftanzmeisters Catalabutte, der durchgängig im klassischen Vokabular tanzt und sogar noch den Blauen Vogel im Pas de deux mit Prinzessin Florine (Xue Lin) asmburggibt. Christopher Evans macht aus dem Zeremonienmeister eine Hauptrolle, brilliert mit eleganter Attitüde und weiten, hohen Sprüngen. Bei den Hochzeitstänzen gefällt auch der Pas de trois „Amors Segen“ mit Alessandro Frola als Reichtum, Emilie Mazon als Frohsinn und Yun-Su Park als Mut.
Nach wie vor bestechend ist Roses gediegene Ausstattung mit den atmosphärischen, von Neumeier wunderbar beleuchteten Bühnenbildern – einem Märchenschloss mit Türmen, einem nebligen Dornenwald – sowie den prachtvollen Kostümen aus kostbaren Stoffen. Sie zieren besonders die Figuren des Sternenballetts „Triumph der Morgenröte“ bei Auroras Taufe, wo erste Tänzer des Ensembles Petipas anspruchsvolle choreografische Schöpfungen mit aristokratischer Finesse zelebrieren. Für die Königin, der Anna Laudere an der Seite von Edvin Revazov als König hoheitsvolle Würde verleiht, hat Rose sogar eine zweite Robe mit langer Schleppe entworfen. Im Walzer bezaubern Gärtnerinnen und Gärtner mit Blumenreifen. Die Aufführung in ihrem Prunk und ihrem tänzerischen Niveau ist ein Juwel im Repertoire, wozu auch Markus Lehtinen mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg durch eine differenzierte musikalische Deutung beiträgt.
Bernd Hoppe, 23.12.21