Weitere Aufführungen in Zürich: 29.10. | 7.11. (Nachmittag und Abend) | 11.11. | 14.11. | 28.11. | 30.11. | 2.12. | 4.12.2021
Ein Mann in grauem Mantel und Bowler Hut (eine Referenz an Ravels Zeitgenossen René Magritte?) steigt auf die Bühne, schiebt den schwarzen Vorhang nach oben, Vogelgezwitscher ist zu vernehmen. Er geht auf einen Holzzaun zu, wie von unsichtbarer Hand bewegt öffnen und schliessen sich Türen im Zaun. Geheimnisvoll Erotisches scheint sich hinter dem Zaun abzuspielen, Kleider fliegen in die Luft – Maurice Ravels Boléro setzt ein, ein mal poetisches, mal witziges, mal brutales Spiel beginnt. Im Zentrum steht immer diese hölzerne Wand, welche sich als ungeheur flexibel erweist. Mal ein Grenze bildend, dann teilweise oder vollständig niederklappend, mal horizontal oder vertikal faltbar und neue, spannende Räume bildend. Sechs Tänzer und drei Tänzerinnen durchleben Situationen, welche von Schrecken bis zur exaltierten Partystimmung reichen, finden sich in Paaren, Konflikten, auswegslosen Situationen, sind mal ausgestossen, dann wieder ins taumelnd-betrunkeneTreiben integriert.
Die neun Tänzer rennen im wortwörtlichen Sinne gegen die Wand, stehen am Abgrund oder auf der liegenden Wand, die als Podest für beinahe exhibitionistische Selbstdarstellungen dient. Das Bewegungsvokabular reicht von lasziv bis bizarr, oft wird mit angewinkelten Gliedern getanzt, das klassisch gestreckte Bein oder der Tanz auf der Spitze kommen nicht vor. Das weckt Assoziationen, ohne durch eine konkrete Handlung zu bevormunden. Johan Inger ist hier in der vor 20 Jahren für das Nederlands Dans Theater entstandenen Choreografie ein zeitloses Meisterwerk gelungen, welches einen eine halbe Stunde lang in seinen Bann schlägt. Mitten im Stück stoppt die Musik aus dem Graben, man hört sie nur noch aus der Ferne. Eine Frau scheint im Winkel der Wand gefangen, ein Mann kommt hinzu, ein rätselhaftes Schattenspiel beginnt, als die beiden zur Synchroniziät finden, setzt die Musik aus dem Graben wieder mit vollem Orchesterklang ein, Ravels Ostinato-Boléro steigert sich, parallel dazu verfallen Tänzer in stampfende Rasanz, ziehen sich die grauen Mäntel und die Bowlerhüte wieder an, die Ausgelassenheit geht mit der finalen Kulmination des Boléros zu Ende – der einzige ohne Mantel und Hut bleibt auf der Bühne zurück, das Publikum setzt mit begeistertem Applaus ein, doch Johan Ingers Choreografie ist nicht zu Ende, er unterläuft gekonnt die Erwartungshaltung des Publikums, das vielleicht die Jahrhundertchoreografie des BOLÉRO von Maurice Béjart noch vor Augen hat.
Inger lässt in einem traurigen Abgesang, untermalt von Arvo Pärts sublimem, ätherischem Klavierstück Für Aline einen berückenden Pas de Deux folgen, an dessem Ende die Frau alleine zurückbleibt und der Mann sich von der Wand aus ins Dunkel stürzt. (Suizid?). Tänzerisch wird das grandios vom Ballett Zürich umgesetzt. Die drei Frauen bekommen ganz unterschiedliche Charaktere – und interpretieren ihre Rollen mit fantastischer Bühnepräsenz. Emma Antrobus in Weiss, Meiri Maeda in Rot und Giulia Tonelli in Kupfer verleihen ihren Figuren eine überwältigende Kraft und Persönlichkeit. Die sechs Männer stehen ihnen in nichts nach: Luca Afflitto, Cohen Aitchison-Dugas, Esteban Berlanga, Jan Casier, Mark Geilings und William Moore vereinen Kraft, Agilität, Witz und Verzweiflung auf höchstem Niveau. Die gross besetzte Phiharmonia Zürich unter der Leitung von Jonathan Stockhammer und die Pianistin Kateryna Tereschchenko erzeugen mit Ravels Boléro eine mitreissende Wirkung aus dem Graben, respektive mit Arvo Pärts Klavierkomposition eine betörend-elegische Stimmung.
Die orchestrale, explosive Kraft setzt sich nach der Pause mit Strawinskys LE SACRE DU PRINTEMPS fort. Meinen Worten zur Premiere von 2016 brauche ich eigentlich kaum noch was hinzuzufügen, ich habe den Text mit der Wirkung ergänzt, welche meine zweite Begegnung mit Clugs Choreografie nach fünf Jahren (und diesmal vom zweiten Rang aus betrachtet) auf mich hinterlassen hat: Edward Clugs Interpretation von LE SACRE DU PRINTEMPS, entstanden für das Slowenische Nationalballett Maribor 2012, für Zürich nun neu einstudiert – ist ein gewaltiger Wurf. Die Bühne ist hier rabenschwarz, mit fahlem, von oben fallendem Licht. Nur im unteren Drittel ist ein weisser Streifen der Hoffnung ausgespart, welcher dann aber zu Beginn des zweiten Teils (Das Opfer) ebenfalls vom schwarzen Vorhang überdeckt wird. Clug beschränkt sich auf sechs Tänzerinnen und sechs Tänzer, welche in einer Art Endzeitstimmung im Bühnengeviert gefangen sind, sich nach dem Licht recken, Rochaden in ihren Aufreihungen durchführen, eine Möglichkeit des Ausbruchs suchen. Eine Art Geschlechterkampf scheint sich abzuspielen. Die Menschen wirken nackt in der sandfarbenen Unterwäsche, die Körper weiss bemalt, die Frauen mit Zöpfen und etwas übertriebenem Wangenrouge (eine kleine Hommage an die Uraufführung), erbarmungslos ihrem tristen Dasein ausgeliefert. Immer wieder klappen sie ermattet und erschöpft zu Boden. Nur eine sondert sich von Beginn weg ab: Katja Wünsche als die junge Frau, welche nicht durch die Gruppe in die Opferrolle gezwungen wird, sondern dieses Selbstzerstörerische, Opferwillge von Anfang an selbstbestimmt in sich trägt, das Martyrium quasi sucht. Das geht wahrlich unter die Haut. Wunderbar einfühlsam dann die Szene, in der die Frauen dem Opfer zärtlich die Zöpfe entflechten: Anteilnahme am Schicksal des Opfers und Vorbereitung der Qualen zugleich.
Phänomenal natürlich der szenische Coup de théâtre mit dem Wasser, welches am Ende der ersten Teils vom Bühnenhimmel fällt, perfekt und effektvoll ausgeleuchtet wird und von nun an die Szene beherrscht. Bewundernswert, wie die Tänzerinnen (neben Katja Wünsche begeistern Giulia Tonelli, Inna Bilash, Melissa Ligurgo, Sujung Lim und Michelle Willems) und Tänzer (Alexander Jones, Jesse Fraser, William Moore, Daniel Mulligan, Matthew Knight und Lucas Valente) sich auf das „gefährliche“ Element Wasser einlassen, mit dem glitschigen Boden und den Pfützen spielen, sich beregnen lassen. Von einer tristen Poesie geprägt sind die wunderbar laut- und schwerelos über den nassen Boden gleitenden Tänzerinnen, welche wie Schwäne über die klitschnasse Bühne schweben oder sich von den männlichen Partnern in einer Art Todesspiralen wie beim Eiskunstlauf im Kreis drehen lassen. Dabei verbindet sich der Puder der Körper mit dem Wasser auf dem Bühnenboden und es werden in dieser milchigen Suppe schöne Kreiszeichnungen sichtbar. Leider führen diese poetischen Momente zu unangebrachten Lachern im Publikum. Diese zauberhaften Momente bilden einen scharfen Kontrast zu den brachialen und archaischen Riten, in welchen diese wie letzte Überlebende nach einer Naturkatastrophe ums Leben kämpfenden Menschen verzweifelt Zuflucht suchen. Auch bei Clug ist (wie vor der Pause bei Inger) alles genau und feinfühlig aus der Musik heraus entwickelt, den packenden Sog der Partitur erbarmungslos aufnehmend und weiterführend. Gerade deshalb ist es hoch spannend, wie die beiden grossbesetzten Musikstücke aus dem ersten Viertel des 20 Jahrhunderts, die beide in Paris uraufgeführt worden waren, hier choreografisch interpretiert werden.
Kaspar Sannemann, 30.10.21
Bilder (c) Gregory Batardon