Beschwingender, vielversprechender Erfolg für die neue junge Sängergeneration der „Senkrechtstarter“ in einer etwas „überdrehten“ Musical-artigen Inszenierung.
Der neue Schwerpunkt der aktuellen Spielzeiten „selten oder nie an der Pariser Oper gespielten französische Opern“ wird nun nach Massenets „Cendrillon“ (letztes Jahr zum allerersten Mal an der Opéra gespielt) fortgesetzt mit „Roméo et Juliette“ von Gounod (seit 1985 nicht mehr an der Pariser Oper gespielt). Inzwischen gab es auch noch „Hamlet“ von Ambroise Thomas (seit 1938 nicht mehr), den wir aus verschiedenen Gründen nicht rezensiert haben. Unter anderem auch, weil wir ihn letztes Jahr sehr ausgiebig an der Opéra Comique besprochen haben. „Roméo et Juliette“ – im April noch in Zürich mit Benjamin Bernheim, der aktuelle Roméo par excellence – braucht man wohl nicht mehr vorzustellen. Nur so viel dazu: Sie ist die meistgespielte Oper von Gounod nach „Faust“ in dessen Schatten sie immer geblieben ist. Denn „Faust“ (1859) war (ist?) das meist gespielte Werk an der Pariser Oper überhaupt (mit über 3000 Vorstellungen in kaum 100 Jahren), auch in London und New York, wo die Metropolitan Opera mit Caruso in „Faust“ eröffnet wurde. Gounod versuchte Jahre lang vergeblich mit diesem Erfolg anzuknüpfen, doch seine spektakuläre „La Reine de Saba“ (1862) und seine charmant in der Provence angesiedelte „Mireille“ (1864) kamen nicht an und können sich immer noch nicht auf den Spielplänen halten. („Mireille“, die Eröffnungs-Inszenierung der Ära Nicolas Joël an der Pariser Oper, wurde seit 2009 nicht wieder aufgenommen). Das galt auch für die vielen anderen kleineren Opern, die Gounod nach „Faust“ noch komponierte.
Der erste Erfolg gelang Gounod erst 1867 mit „Roméo et Juliette“ im Rahmen der Weltausstellung in Paris, obwohl er sich dort gegen große Konkurrenz behaupten musste: der „Don Carlos“ von Verdi und die Dame, nach der damals alle blickten: Hortense Schneider als „La Grande Duchesse de Gérolstein“ von Jacques Offenbach, der alle nach Paris angereisten Fürsten, Könige und Kaiser wörtlich zu Füssen lagen. So bestand die Gattin des damaligen Operndirektors Caroline Miolan-Carvalho in letzter Minute auf eine sinnlich-frohe Auftrittsarie, um mit der Schneider konkurrieren zu können, und bekam „Je veux vivre dans ce rêve qui m’enivre“ – seitdem eine der bekanntesten und meistgesungenen französischen Sopran Arien überhaupt. Sie konnte diese von März bis Dezember 1857 über hundert Mal (!) singen, bis „Roméo et Juliette“ 1868 an ein anderes Theater überwechselte und dann über die Opéra Comique (1873-1887) an die Pariser Oper landete, wo es 1888-93 auch noch über 100 Vorstellungen gab. Nach dem Zweiten Weltkrieg verschwand dieses Repertoire und scheiterten die Versuche, es wieder zu beleben, schlicht und ergreifend daran, dass es im Rahmen der Internationalisierung der Sänger-Karrieren und Ausbildungen kaum noch französische Sänger gab, die dieses stilgerecht singen konnten. So wurde bezeichnenderweise die Referenzaufnahme von „Roméo et Juliette“ mit Alain Lombard & dem Chor und Orchester der Pariser Oper 1968 mit Franco Corelli und Mirella Freni besetzt. Zweifellos wunderbare Sänger, aber „mit Französischen Gesang hat dies nichts zu tun“, so wie u.a. Régine Crespin dies damals monierte.
Dieses Warnungen – ähnlich wie damals im deutschsprachigen Gebiet über „das Verschwinden der großen Stimmen“ – hatte den Erfolg, dass ab dann eine neue Generation von Sängern ausgebildet wurde, die jetzt erfolgreich auf der Bühne steht. 90% des Casts wurde nach 2005, 2010 und sogar ab 2015 ausgebildet – zum Teil im Atelier Lyrique der Pariser Oper – und wirklich alle singen stilistisch perfekt. Das war für mich der größte Erfolg des Abends! Die fulminante Besetzung wurde angeführt durch Benjamin Bernheim, den meine Kollegen in Zürich hymnisch lobten als „Er ist wohl der Roméo unserer Zeit und überhaupt der führende Tenor im Repertoire der französischen Oper des 19. Jahrhunderts“. Zurecht. Bernheim fing erst 2015 mit kleineren Rollen in Paris an und als er 2020 hier seinen ersten Chevalier Des Grieux in der „Manon“ von Massenet sang, schrieb ich eine ausführliche Besprechung mit allen Stil-Eigenheiten des französischen Gesangs, die ich seit langem nicht mehr in dieser Rolle gehört hatte und die er wirklich perfekt beherrscht. Das gilt auch für Roméo, auch wenn er leider an dieser Premiere anscheinend etwas indisponiert war. Auch wenn er makellos und wunderbar textverständlich sang, fehlten ihm u.a. in der Balkonarie „Ah, Lève-toi soleil“ in der Höhe der jugendliche Schmelz, den – wer erinnert sich heute noch daran? – Roberto Alagna 1994 so unvergesslich als Roméo an der Opéra Comique hatte, so dass er dort eine wirkliche Hysterie im Publikum auslöste. Aber das ist natürlich Klagen auf hohem Niveau.
Elsa Dreisig wurde als Juliette „der Star des Abends“ und kam auch beim Schluss-Applaus als letzte auf. Sie ist wie Benjamin Bernheim eine „Senkrechtstarterin“, aber in einem noch viel kürzeren Zeitraum. Denn es ist noch keine zehn Jahre her, da saß ich mit ihr in einem Pariser Café nach dem öffentlichen Endexamen des Pariser Konservatoriums, wo sie zwar (informell) als die begabteste Schülerin ihrer Klasse galt, aber wo sich niemand die Karriere vorstellen konnte, die gleich danach für sie begann. 2015 gewann sie den Wettbewerb „Neue Stimmen“ und wurde in das Opernstudio der Berliner Staatsoper aufgenommen, von wo sie 2017 in das Ensemble wechselte, und gleich größere Rollen bekam. Im gleichen Jahr sang sie schon eine Pamina an der Pariser Oper, dann eine Lauretta (in Gianni Schicchi), danach Zerlina und 2021 debütierte sie in Salzburg als Fiordiligi, letztes Jahr in Aix-en-Provence als Salome und vor einem Monat an der Wiener Staatsoper als Manon (von Massenet, als Einspringerin für Pretty Yende, die nun ab 27. Juni abwechselnd mit ihr die Juliette singen wird und auch bei der Premiere anwesend war). Elsa Dreisig bekam nach ihrer fulminant gesungenen Koloratur-Auftrittsarie „Je veux vivre dans ce rêve qui m’enivre“ einen großen Zwischen-Applaus, zeigte bis zum Ende des Abends nicht die geringste Ermüdungserscheinung und kam spielend mit dem großen Saal der Opéra Bastille zurecht.
Als Dritte stand Lea Desandre auf dem Besetzungszettel als Stéphano, Page und Vertrauter von Roméo, ein Rollentypus, der besonders wichtig war in den damaligen französischen Opern, so wie der Page Urbain in Meyerbeers „Les Huguenots“ oder Ascanio in „Benvenuto Cellini“ von Berlioz. Sie bekam ebenfalls einen riesigen Applaus für ihre wunderbare Arie „Que fais-tu blanche tourterelle dans ce nid de vautours“ und war wohl die turnerisch begabteste Sängerin auf der Bühne (wozu später mehr). Lea Desandre – wie viele ihrer Kollegen an diesem Abend kaum 30 Jahre alt – ist ebenfalls eine Senkrechtstarterin: vor 5 Jahren gewann sie 2017 die „Victoires de la Musique“ in Paris, die sie 2021 noch einmal gewann, hat seitdem quasi schon überall gesungen (auch in Salzburg und Aix) und seit 2017 schon 18 (!) Plattenaufnahmen gemacht. Letztes Jahr debütierte sie an der Pariser Oper als vielbeachteter Cherubino (auch wegen ihrem schauspielerischen Talent) und nun wird es sicherlich bald größere Rollen geben. Behalten Sie diesen Namen! Der gleichaltrige Huw Montague Rendall ist zwar kein Franzose – er debütierte 2016 in Glynderbourne als „young artist“ – aber er beherrscht das französische Fach tadellos. So wurde er bei seinem Debüt in der fordernden Rolle des Hamlet von Ambroise Thomas in der Komischen Oper in Berlin „mit Rosen überworfen“ (wie meine Kollegen berichten) und das war im April – also vor kaum zwei Monaten (!). Er sang als Mercutio im ersten Akt eine so berührende „Ballade de la reine Mab“, dass er ab dann für meine Sitznachbarn „der schönste Mann des Abends“ war und jeder seiner Auftritte hingebungsvoll beklatscht wurde. Eigentlich müsste man sie alle länger beschreiben, jung, begabt und tadellos singend: Maciej Kwaśnikowski (Tybalt), Thomas Ricart (Benvolio) und Yiorgo Ioannou (Grégorio) – alle drei aus dem Atelier Lyrique der Pariser Oper. So wie Sergio Villegas Galvain (Pâris), Jérôme Boutillier (Le Duc de Vérone) und Antoine Foulon (als samtig-sonorer Frère Laurent) – die alle drei an der Pariser Oper debütierten und ihren älteren und erfahreneren Kollegen mühelos das Wasser reichen konnten: Laurent Naouri als Capulet und Sylvie Brunet-Grupposo als Gertrude (der Vater und die Amme von Juliette) – beide durch mich schon oft und gerne rezensiert.
Die Inszenierung war im Prinzip gut und gekonnt in einer geschmackvollen Ausstattung und das ist heutzutage schon viel. So fing die Rezension meines Opernfreund-Kollegen Kaspar Sannemann über den „Roméo et Juliette“ im April in Zürich an mit dem Satz: „Nicht schon wieder, denkt man beim Betreten des Zuschauersaals mit dem Blick auf die offene Bühne. Nicht schon wieder leere, schmucklose Wände im Geviert, dazu die obligaten Stühle, hier in zwei symmetrischen Reihen aufgestellt, die ganze Bühnentiefe bis zur Rückwand ausnutzend. Es fehlt nur noch eine Uhr an der Wand und man hätte alle Grundingredienzen zeitgenössischer Musiktheaterbühnenästhetik auf der Bühne des Opernhauses vereint.“ Das blieb uns in Paris alles erspart. Dafür gab es überbordend viel anderes: die große Prunktreppe des Palais Garnier auf einer Drehbühne von Bruno de Lavenère und historische, manchmal mit viel Pailletten modernisierte Kostüme von Sylvette Dequest, so wir diese von ihnen aus den beiden ersten Operninszenierungen von Thomas Jolly schon kennen. Der junge und sympathische Jolly (gerade 40) kommt aus dem Theater – wo er hauptsächlich mit Shakespeare-Inszenierungen auf sich aufmerksam machte – und inszenierte mit dem gleichen Team 2017 Offenbachs „Fantasio“ an der Opéra Comique und 2019 die Uraufführung von Pascal Dusapins „Macbeth Underworld“ an der Monnaie in Brüssel – wobei gerade die Letztere mir ausnehmend gut gefiel, weil Jolly auch als Shakespeare-Kenner an der Dramaturgie mitgearbeitet hatte. Sehr intelligent und wunderschön umgesetzt! Doch bei „Roméo et Juliette“ hatte er vielleicht Angst, dass diese Feinheiten in dem großen Saal der Bastille Oper nicht über die Rampe kommen würden und „drehte auf“. So drehte sich bei „Macbeth“ die ähnliche Bühne gefühlt zehnmal und bei „Roméo et Juliette“ mehr als hundertmal. Das war in dem Eröffnungschor – dazu wunderbar geheimnisvoll beleuchtet durch Antoine Travert – optisch und akustisch besonders, doch wurde mit der Zeit einfach „überdreht“. Man glaubt sich manchmal im „Phantom of the Opera“, auf den auch direkt verwiesen wurde: die Masken, der unterirdische See unter den Palais Garnier, die Lichteffekte etc. Zu einem Musical gehört vor allem „movement“ und in den Ensemble-Szenen huschten quasi pausenlos irgendwelche Tänzer in schrillen Kostümen über die Bühne, auch wenn sie im Libretto gar nicht vorgesehen waren. Da die vierte Fassung gespielt wurde (1888 für die Pariser Oper mit dem damals obligaten Ballett am Ende des zweiten Aktes) hatte man Tänzer und eine Choreografin engagiert, die das besagte (stark gekürzte) Ballett sehr unerwartet gestalteten – aber etwas Ironie kann dieses auch vertragen und die gut getanzte Umsetzung war musikalisch. Doch in anderen Szenen wurde ich einfach nicht schlau aus diesen Tänzen. Josépha Madoki, die z.B. für die Popsängerin Beyoncé den Clip „Apeshit“ choreographiert hat, ist eine Vorreiterin des „Waacking“, eine Tanzform aus den Afro-latino-Gay Bars in Los Angeles (so wie es gleich auf Seite 2 des Programmhefts steht). Ich habe dies nicht in Verbindung bringen können mit „Roméo et Juliette“ von Gounod. Ein anderes Herumgewirbel über die Bühne hat mir dagegen ausnehmend gut gefallen. Das waren die vielen Streit-, Kampf- und Fechtszenen, die in vielen französischen Opern vorkommen und die so oft, wie im oben erwähnten „Hamlet“ an der Opéra Comique, ungelenk peinlich banal umgesetzt werden (Sänger müssen ja meist danach auch noch Atem zum Singen haben). Diese wurden nun kraftvoll und überzeugend choreographiert durch Ran Arthur Braun: so „lebensecht“ habe ich diese noch nie auf einer Opernbühne gesehen – bravo! (auch für die Sänger!). Carlo Rizzi dirigierte dies alles gekonnt routiniert, aber – so wie schon letztes Jahr für „Cendrillon“ – ohne das geringste „raffinement“, mit der diese Musik „atmet“. Das Orchestre de l’Opéra de Paris spielte dementsprechend uninspiriert und an manchen Stellen peinlich unsauber (mehrere Bläsereinsätze wurden vollkommen verpatzt). Alle Achtung für die Sänger und auch den wieder exzellent durch Ching-Lien Wu einstudierten Chor der Oper, die daraufhin trotzdem sauber auf dem richtigen Ton einsetzten. Der Chor war musikalisch für mich das Beste am Abend – mit natürlich dieser wirklich vielversprechenden neuen „Senkrechtstarter-Sängergeneration“, die diesen bis vor kurzem so seltenen gespielten französischen Opern des 19. Jahrhunderts im wahrsten Sinne des Wortes „ein neues Leben gibt“.
Waldemar Kamer, 20. Juni 2023
Roméo et Juliette
Charles Gounod
Opéra National de Paris (Bastille)
17. Juni 2023
Inszenierung: Thomas Jolly
Dirigat: Carlo Rizzi
Orchestre et Choeurs de l’Opéra de Paris
Opéra National de Paris (Bastille) bis zum 15. Juli
Informationen dazu auf der Homepage
(nächstes Jahr am Teatro Real in Madrid)