Vorstellungen vom 13./ 25.7.2017
In diesem Jahr feiert Finnland seine 100jährige Unabhängigkeit von Russland. Dementsprechend war auch das diesjährige Programm der Opernfestspiele von Savonlinna auf dieses Ereignis ausgerichtet. So war es nur konsequent, dass Aulis Sallinens neues Werk „Die Burg im Wasser“, seine Oper „Kullervo“ sowie Sibelius‘ gleichnamige frühe Sinfonie einen Themenschwerpunkt bildeten. An Neuinszenierungen standen Mozarts „Die Entführung aus dem Serail“ (wurde nicht besucht) und Verdis „Rigoletto“ auf dem Programm, wobei letzteres Werk weniger eine Neuproduktion als vielmehr eine Ûbernahme von Londons Royal Opera House Covent Garden war.
Neu daran war lediglich das Bühnenbild YANYA MCCALLIN’s, das sich überzeugend dem Burgambiente anpasste, während das Regiekonzept (DAVID MCVICAR) dasselbe wie in London war, inklusive der orgiastischen Auswüchse des Eingangsbildes, das damals im Programmheft zu Warnungen vor Nacktszenen geführt hatte. Im Vergleich zur Premiere drei Tage zuvor gab es einige Neubesetzungen. So sang HANNA RANTALA eine überaus überzeugende Gilda, die alle Schwierigkeiten ihrer Partie perfekt meisterte und sich besonders in der Höhenlage sehr wohl zu fühlen schien. Wenn mich trotz dieser fehlerlosen stimmlichen Leistung ihre Gilda nicht total begeisterte, so deshalb, weil (mir) an ihrem Timbre jenes Quäntchen Individualität fehlte, das zu einem hohen Wiedererkennungswert führt. Ihr Vater war mit CLAUDIO OTELLI besetzt, auch in Savonlinna kein Unbekannter, trotz seines italienischen Namens Österreicher. Wenn man bedenkt, dass zu Otellis Repertoire solche Heldenbaritonpartien wie Wagners Sachs, Holländer, Telramund und Amfortas gehören, darf man von ihm keinen Belcanto-Rigoletto erwarten. Trotzdem war es imponierend, wie er mit seinem eher metallischen Charakterbariton seinen ihm eigenen Weg zur Titelpartie fand.
Wie schon in der Premiere wurde der Duca vom jungen Kosovo-Albaner RAME LAHAJ gesungen, noch 2010 bei den Eutiner Sommerfestspielen als Traviata-Alfredo debütierend, heute auf den großen Bühnen zu Hause. Warum ihm innerhalb dieser relativ kurzen Zeit diese Karriere gelang, zeigte sein Duca in exemplarischer Weise. Ein schmelzreiches Timbre von großer Geschmeidigkeit, gekrönt von Strahlkraft in den Höhen – eine Stimme wie geschaffen für die lyrischen Tenorrollen Verdis, und – wie sein reich gefüllter Auftrittskalender vermuten lässt – scheint Lahaj klug genug zu sein, es vorläufig bei Partien dieses Faches zu belassen und seine Stimme langsam reifen zu lassen. Von diesem Tenor wird man noch viel Gutes hören!
Sparafucile war luxuriös mit MIKA KARES besetzt, der karrieremäßig nun dort angekommen ist, wozu man ihn vor nunmehr 9 Jahren in Savonlinna etwas voreilig gemacht hat: „Sänger des Jahres“. Sein Material, das damals in den Extremen der Basstessitura (noch) begrenzt war, ist nun voluminös und von einer Schwärze, die dem Sparafucile bedrohliche Gefährlichkeit verleiht. Bravissimo! Die übrige Besetzung war von wechselnder Qualität. Ein überflüssiger Import war KATARINA GIOTAS als Maddalena, und Jorma Silvastis, des Künstlerischen Leiters, Ansatz, für den „Mittel- und Unterbau“ einer Aufführung vorwiegend finnische Sänger zu verpflichten, möchte ich zumindest mit einem Fragezeichen versehen. Sein Vorgänger war stark kritisiert worden, für diese Rollen ausländische Künstler (meist einer bestimmten Agentur) gefunden zu haben, doch sollte man nicht vergessen, dass Savonlinna ein internationales Festival ist, bei dem die Partien nach Qualität, Verfügbarkeit und Bezahlbarkeit und nicht nach nationaler Quote besetzt werden sollten, so ehrenwert die Förderung der einheimischen Sänger im Prinzip auch ist. So fiel auf, dass zwei Rollen, die nicht unwichtige der Gräfin Ceprano und die des Gerichtsdieners, sogar mit Kräften aus dem (wie immer hervorragenden Savonlinna-Opernchores) besetzt waren, im Falle des Gerichtsdieners (ROMAN CHERVINKO) sogar mit einer Stimme, die trotz der Kürze der Partie auffiel, wie auch die des Monterone (JUHA PIKKARAINEN). Ansonsten „nothing to write home about“.
Mein Platz vorne im Parkett machte es nicht gerade leicht, die Leistung des Orchesters unter der Leitung von PHILIPPE AUGUIN zu beurteilen. Von hier aus stellte sich die gewohnte Balance zwischen Bühne und Graben nicht ein. So bleibt mir nur übrig zu konstatieren, dass Auguin sängerfreundliche Tempi wählte und alles gut zusammenhielt.
Zwölf Tage später, beim ersten Tag des Gastspiels des Moskauer Bolschoi-Theaters mit Tschaikowskys Oper „Iolanta“, bot sich mir von einem ähnlichen Platz aus jedoch ein veränderter Höreindruck. Hier klang das Orchester unter der Leitung seines Chefdirigenten TUGAN SOKHIEV wesentlich präsenter, bildete nicht nur den musikalischen Unterbau des Bühnengeschehens, sondern war gleichberechtigter Partner. Den ganzen Abend konnte ich den Gedanken an ein Bonmot nicht verdrängen, das den „Kulturkampf“ zwischen der Moskauer Metropole und St. Petersburg beschreibt. Demnach soll man am Bolschoi-Theater behaupten, am Mariinsky-Theater würde nur „gesäuselt“, während umgekehrt vorgeworfen würde, in Moskau würde nur „gebrüllt“. Wie dem auch sei, nicht nur das Orchester, sondern auch Solisten und Chor fuhren „mit vollen Segeln“ und ließen den Verdacht aufkommen, in Tschaikowskys Partitur habe sich nur ab und zu ein piano verirrt, doch ich muss gestehen, auch ich konnte mich der Wucht dieses Klanges nicht entziehen.
Die Produktion, die seit dem Jahre 2015 auf dem Spielplan des Bolschoi-Theaters steht, gleicht mehr einem Konzert in Kostüm und Maske („Regie“: SERGEY ZHENOVACH) und bietet außer einem interessanten Ansatz, Iolantas Blindheit auch in bühnenbildmäßiger Trennung von den übrigen Protagonisten darzustellen, nur Stehtheater mit den „Höhepunkten“, als Robert und Vaudemont zu ihren Arien Stühle besteigen mussten.
Bis auf die nur durchschnittlichen Sänger des Königs René (PYOTR MIGUNOV mit trockenem Bass) und Almérik (TARAS PRISYAZHNIUK aus dem Opernstudio) waren die übrigen von allererster Güte und veranlassten mich nicht nur einmal zu einem Vergleich mit ihren Kollegen vom Mariinsky-Theater. Und wenn man sich die Biografien dieser Künstler ansieht, so stellt man fest, dass einige von ihnen in Leningrad geboren sind bzw. am dortigen Rimsky-Korsakov-Konservatorium studiert haben, jedoch ihren Weg am Mariinsky-Theater bzw. dessen Akademie vorbei nach Moskau gefunden haben – eine Entwicklung, die nachdenklich macht! Auch die Iolanta-Sängerin, die junge EKATERINA MOROZOVA, ging diesen Weg – von der St. Petersburger Mariinsky-Akademie über das Opernstudio am Bolschoi-Theater bis hin zum Ensemble-Mitglied an diesem Institut. Sollte man etwa jungen Sängern in Moskau eine bessere Entwicklung angedeihen lassen als in der Newa-Metropole? Sollten sie dort bessere Aufstiegsmöglichkeiten haben? Der Verdacht liegt nahe. Auch eine Venera Gimadieva hatte es schnurstracks nach dem St. Petersburger Konservatorium in die Hauptstadt gezogen, von der aus sie binnen kurzem eine Weltkarriere startete.
Damals noch Mitglied der Mariinsky-Akademie, hatte Ekaterina Morozova 2014 am renommierten Mirjam-Helin-Wettbewerb in Helsinki teilgenommen, es bis ins Finale geschafft und war mit dem 3. Preis bedacht worden. Bereits damals fiel mir ihr attraktives, dunkel getöntes Material auf, allerdings auch (die für die Akademie so typische) falsche Stückauswahl. In Partien wie Figaro-Contessa, Fiordiligi oder Iolanta kann sie nun am Bolschoi-Theater zeigen, wo ihre Stärken liegen – mit einer wahrhaft lyrischen Stimme von runder Fülle und hohem technischem Können. Wie schade, dass das Publikum (kein Wunder bei diesem Werk, das nicht zum Standardrepertoire gehört) ihre Arie nicht mit dem ihr eigentlich gebührenden Beifall feierte. Trotzdem, mit dieser Iolanta hat Ekaterina Morozova einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen.
Wenn nicht gerade Sergey Skorokhodov singt, hat das Mariinsky-Theater für die Partie des Vaudemont keinen Tenor im eigenen Ensemble, der es mit dem Ukrainer DMYTRO POPOV aufnehmen könnte. Nun, Popov ist kein Ensemblemitglied, sondern Gast am Bolschoi-Theater – kein Wunder bei den vielfältigen Auftritten des auch im Ausland gefragten Sängers. Wie sein albanischer Duca-Kollege verbleibt auch er im vorwiegend lyrischen Fach, allerdings mit vereinzelten Ausflügen zu dramatischeren Rollen. Eine ebenso geschmeidige, individuell timbrierte wie kraftvolle Stimme, trotz aller Höhenattacken auch zu Lyrismen fähig. Der Robert des Abends, KONSTANTIN SHUSHAKOV, mag nicht das Luxus-Material seiner Mariinsky-Kollegen Markov und Sulimsky haben, konnte aber zu Recht großen Jubel für seine brillant vorgetragene Arie einheimsen. Und auch ELCHIN AZIZOV besaß für den maurischen Arzt Ibn-Hakia, der Iolantas Blindheit heilte, genau den richtigen Stimmtyp eines dramatischen Charakterbaritons.
Die übrigen Sänger der kleineren Rollen seien zumindest genannt, sie alle mit guten, individuell timbrierten Stimmen: SVETLANA SHILOVA (Martha), OLGA SELIVERSTOVA (Brigitta), YULIA MAZUROVA (Laura) und ALEXANDER NAUMENKO (Bertrand). Und der Dirigent der Aufführung? Auch an TUGAN SOKHIEV kann man unschwer Chancen, aber auch Gefahren eines Künstlers am Mariinsky-Theater ablesen. Er, der aus Valery Gergievs Heimatstadt Vladikavkaz stammte und auch bei dessen Lehrer Ilya Musin studierte, war am Mariinsky ein Hausdirigent, der – wie üblich – Premieren für Gergiev vorbereiten und nachdirigieren durfte, selten mit den ersten Kräften des Orchesters, was sich auch an der Spielqualität ablesen ließ. Das änderte sich erst, als Sokhiev als Chefdirigent nach Toulouse und dazu an das Deutsche Sinfonie-Orchester nach Berlin ging, was Einladungen zu anderen ersten Orchestern zur Folge hatte. Das Bolschoi-Theater ist für Dirigenten als „Haifischbecken“ bekannt, und solche Stars wie Rozhdestvensky oder Sinaisky verließen das Theater. Nach Iolanta zu urteilen, dürfte Sokhiev am Moskauer Opernhaus genau der Richtige sein mit seiner großen Repertoirekenntnis und seiner für einen Operndirigenten unabdingbaren Fähigkeit, zwischen Führen und Anpassen die richtige Balance zu finden. Was bei Iolanta aus dem Orchestergraben zu hören war, lässt sich mit den besten Abenden des Mariinsky-Theaters vergleichen – also dann, wenn der Chef persönlich am Pult steht. Wie nur wenige zuvor, ist Sokhiev längst den Fußstapfen seines ehemaligen Chefs entstiegen.
Noch eine Nachbemerkung zur Repertoirepolitik des derzeitigen Leitungsteams Silvasti / Strandholm. Rigoletto gab es zuletzt vor neun Jahren in der überzeugenden Långbacka-Inszenierung; hätte es nicht andere Verdi-Opern gegeben, die hier noch nicht gespielt wurden? So verdienstvoll es war, dass das Bolschoi-Theater mit Iolanta eine Oper aufführte, die außerhalb Russlands nicht zum Standardrepertoire gehört. Warum aber dann als zweites Werk dieses Theaters Evgeny Onegin (wenn auch diesmal nur konzertant), der 2013 vom St. Petersburger Mikhailovsky-Theater gezeigt worden war? Hätte es für die zweite Gastbühne, das Teatro Real aus Madrid, nicht eine andere Oper als Bellinis Puritani gegeben – 2009 als Gastspiel aus Palermo, pikanterweise mit demselben Tenor (Celso Albelo)? Hätte es als zweites Werk des Madrider Opernhauses nicht etwas für Spanien typischeres wie z.B. eine Zarzuela als ausgerechnet Sibelius‘ Kullervo-Sinfonie gegeben? Im nächsten Jahr dasselbe Bild. Neben einer einzigen Neuproduktion, Tschaikowskys Pique Dame, Wiederaufnahmen von Faust, Madama Butterfly und Otello, ein Gastspiel des Puccini-Festivals aus Torre del Lago mit Turandot und Tosca – also Werken, die als Eigenproduktionen Savonlinnas oftmals hier gespielt wurden. Gibt es wirklich so wenige Werke, die geeignet sind, in der Burg Olavinlinna aufgeführt zu werden?
Sune Manninen 28.7.2017
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