Premiere: 19.6. 2022. Besuchte Vorstellung: 10.7. 2022
Das Grauen beginnt schon in Bayreuth – und es passt zum Stück wie zur Inszenierung. Eine korpulente Frau läuft am Zug vorbei, innen machen sich einige adrenalingeschwängerte Schwaben minutenlang über die „Fette“ lustig. Das ist, denke ich, ein guter Gärteig für eine Hetzmasse vom Schlage jenes borough, die in Peter Grimes Jagd auf die Titelfigur macht.
In Nürnberg herrscht das Grauen, weil der Regisseur Tilman Knabe es verstanden hat, dem Stück jegliche Ambivalenz auszutreiben – und zudem aus der Hetzmasse eine Truppe von prekären Outlaws zu machen, die dem Stück auch auf dieser Ebene jegliche Schärfe nimmt. Er hat nicht begriffen, dass es nicht genügt, mit den alt gewordenen Mitteln eines einst innovativen Theaters (Hauptrequisiten: Müllsäcke, Plastikstühle, Eisenzäune, Kunstblut, dreckige Klamotten, Arbeitslicht) eine im Grunde asoziale Gesellschaft zu zeichnen. Denn es wäre viel raffinierter, ja böser und zugleich erhellender, die „braven Bürger“ Bürger sein zu lassen. Auch in diesem Moment wird klar, dass Peter Grimes zu jenen Werken des Musiktheaters gehört, die nicht im Geringsten einer sog. Aktualisierung bedürfen – wer davon überzeugt ist, dass das Stück in seinem historischen Kostüm nicht immer noch die maximale Aussagekraft hat, oder wer nicht in der Lage ist, mit einer in die Gegenwart geholten Inszenierung (abgesehen von der großartigen Musik) die Relevanz des Werks zu beweisen, sollte die Finger davon lassen. Stattdessen hat sich Tilman Knabe – mit dem ausdrücklichen Hinweis darauf, dass die Eigenaussagen der Schöpfer der Oper vergessen werden können – auf die Seite derer geschlagen, die in Peter Grimes den kranken Mörder sehen. Der Skandal dieser Inszenierung besteht weniger darin, dass wir vom ersten bis zum vorletzten Bild auf eine schäbige wie fantasielose Szene schauen müssen, die wir seit vielen Jahren zur Genüge kennen. Er besteht darin, dass jegliche Unschuldsvermutung, wie sie in demokratischen und humanen Gerichtsprozessen üblich ist, außer Kraft gesetzt wird. Pardon wird nicht gegeben – Peter Grimes ist dem Regisseur in plattester Lesart ein neuer Jürgen Bartsch, ein pädophiler Kindermörder, ein durch und durch pathologischer Typ, der, so die Meinung des Regisseurs, in verhängnisvoller Weise von der schuldig gewordenen „Gesellschaft“ (was ist das??) abhängt. In Zwischentiteln wird lang und breit ein Text von Ulrike Meinhof zitiert, die seinerzeit in der Zeitschrift konkret über das Gerichtsverfahren schrieb. Nb: Es bleibt ein Rätsel, wieso der Name der Autorin, die kurz darauf in den aktiven Terrorismus abdriftete, nicht genannt wird – honni soit qui mal y pense. Die Pointe des Abends liegt also darin, dass der Regisseur Tilman Knabe der Hetzmasse vollumfänglich Recht gibt; daran kann die zitierte Meinung Ulrike Meinhofs schon deshalb nichts ändern, weil die Parallelisierung Peter Grimes‘ mit dem kranken Kindermörder von Text und Musik absolut nicht gestützt wird.
Mit anderen Worten: Die Inszenierung ist eine einzige Fehldeutung, d.h.: eine falsche Interpretation. Gegenbeweis erbeten (und bitte im Libretto anmerken, wo die Ermordung der beiden Jungen gezeigt wird). Man könnte noch darüber streiten, ob eine Party das richtige Synonym zu einem Sturm ist – man kann nicht mehr streiten, wenn explizite Aktionen erfunden werden, die keinen Rückhalt in Text und Musik finden. „Grimes war“, schrieb Peter Pears, für den Britten die Rolle schrieb, „fraglos ein sehr harter Lehrmeister“, er „ist weder Opernheld noch Opernbösewicht. Er ist auch weder Sadist noch eine dämonische Persönlichkeit, er ist ein ganz gewöhnlicher Mensch, ein Schwacher, der im Kriegszustand mit der Gesellschaft lebt“. Sprach da jemand von „Romantisierung“ des Werks? Und muss man, um die angebliche Romantik des Stücks zu widerlegen, Peter Grimes dazu treiben, seine Freundin zusammenzuschlagen? Und muss man für Kapitän Balstrode, der kaum besser ist als seine ruppigen Kumpels, eine eigene Motivation finden, wenn es gilt, Peter Grimes zu raten, aufs Meer zu fahren und sich zu ertränken? Indem man sein erotisches Interesse an dier Freundin des zu Beseitigenden deutlichst zeigt?
Man muss es nicht, weil‘s die Figuren kleiner macht, als sie je waren.
Apropos „dämonisch“. Es ist wenigstens theatralisch ergiebig, wenn Grimes zweimal als gespenstischer Doppelgänger über die Bühne geht und einmal Ellen Orford, auch sie eine Doppelgängerin der realen Ellen Orfod, zum Traualtar führt. Spannend ist die Inszenierung nur da, wo die Hetzmasse sich formiert: da gewinnt sie eine Kraft, die über die Trivialitäten der Trash-Bühne kurzfristig triumphiert. Das Unglück aber beginnt schon im ersten Bild: wenn Peter Grimes den Gerichtsprozess in seinem wahnsinnigen Kopf nur imaginiert, was seltsam quer steht zur Aussage, dass die Stützen der Gesellschaft des Borough, die sich auch gern mal zu einer carnivoren Schwarzen Messe von wilden Tieren treffen, schon während der Verhandlung per se alle korrupt seien; dass sie alle ihre Defizite – Alkoholismus, Drogensucht etc. – haben, steht auf einem anderen Blatt. Ansonsten herrscht purer Aktionismus; dass die Interludes auch dazu da sein könnten, im Zuhörer innere Bilder sich entwickeln zu lassen und das Geschehene musikalisch hoch kunstvoll zu verarbeiten, diese Idee kam dem Regisseur offensichtlich nicht. Schade um die Musik, die nicht allein dann zermalmt wird, wenn sich Peter Grimes minutenlang über die Bühne zu strudeln hat.
Genug der Wort über die meistenteils an den Stückinhalten scharf vorbeisegelnde Inszenierung. Was bleibt, ist die grandiose Musik, die in Nürnberg erstrangig gemacht wird. Peter Marsh ist ein begnadeter Peter Grimes, der sich voll ins pathologisierte Geschehen wirft – und vokal von einer betörenden Schönheit ist. Sein Organ, voller dramatischer wie lyrischer Ausdruckskraft, bindet das Legato des poetisch unterfütterten Leidens (Grimes ist in seinen stillen Momenten ein Dichter von britischem Rang) wie das Staccato der Verzweiflung. Stünde er nicht auf der Bühne, würde die Inszenierung vollends untergehen, was nicht heißt, dass die Intensität seines Einsatzes die Fehlinterpretationen der Regie legitimieren würde. Ellen Orford ist bei Emily Newton ganz zuhaus: eine noble Erscheinung, stimmlich wie gestisch betrachtet, eine vollkommene erste Stimme im Quartett der Frauen, die nicht als Teil der Hetzmasse fungieren dürfen und, zurückgelassen, einen Viergesang ausströmen lassen, von dem sich Benjamin Britten durch das Rosenkavalier-Terzett inspirieren ließ. Almerija Delic ist Auntie, die beiden „Nichten“ heißen Chloe Morgan und Nayun Lea Kim, Sangmin Lee ist Balstrode, Hans Kittelmann Bob Boles, der an diesem Abend besonders viel auf die Nase bekommt: so wie‘s halt bei Outlaws üblich ist (aber, um es zu wiederholen, der Borough von Britten und Slater ist keine Outlaw-Gesellschaft), Nicolai Karnolsky Swallow (schweigen wir über‘s Kostüm), Marta Swiderska die Mrs. Sedley, Samuel Hasselhorn Ned Keene, Ferdinand Keller Reverend Horace Adams (privat ein ganz toller Feger, Stichwort: „Bigotterie“, ach Gottchen) und Hans-Peter Frings der Dr. Crabbe, der Chor des Staatstheaters Nürnberg unter Tarmo Vaask (Peter Grimes ist eine der bedeutendsten Choropern ever) wie immer fabelhaft. Das Ganze wird schließlich von der Staatsphilharmonie Nürnberg unter Lutz de Veer musikalisch äußerst präzise zusammengehalten, getragen und zutiefst ergreifend ins Haus gebracht. Spätestens an der Bühnenkante endet denn doch das Grauen.
P.s: Und was sollte der alte Mann, der mit seinem Rollator während eines Interludes über die Bühne läuft, sich setzt und von einem Mann, Typ: Banker, ein Bündel Geldscheine bekommt? Die Zeit, in der man darüber nachdachte, war immerhin lang genug, um die Hauptsache: die Musik, um derentwillen das Werk überhaupt noch gespielt wird, vergessen zu machen.
Keine weiteren Fragen, euer Ehren.
Frank Piontek, 11.7. 2022
Foto: ©Ludwig Olah.