Im Sommer sind hierzulande keine Burgruine, kein Schloßhof, ja nicht einmal Steinbrüche davor sicher, als Kulisse für Freiluftfestspiele herhalten zu müssen. Wenn die Theater der Nation in die Ferien gehen, fahren die Ensemblemitglieder nicht in den Urlaub, sondern bespielen Bau- und Naturdenkmäler. Große Tragödien und leichte Komödien werden da geboten, Jazz, populäre Klassik, und in ambitionierten Kommunen sogar ganze Opern. Heidenheim an der Brenz mit seinen 50.000 Einwohnern ist außerordentlich ambitioniert und selbstbewußt noch dazu. Die dort alljährlich veranstalteten Opernfestspiele seien ein „hidden champion“, da ist sich deren Internetpräsenz sicher. Seit 1961 spielt man dort Musik in der Ruine eines Rittersaales aus der Stauferzeit, anfangs lediglich Serenaden. Seit 1977 immerhin werden dort alljährlich Opernproduktionen gezeigt. Das Publikum stammt überwiegend aus der Region. Die Aufführungen sind sehr gut besucht und werden dankbar aufgenommen. Erst der Dirigent Marcus Bosch aber, ein Sohn der Stadt, hat seit der Übernahme der künstlerischen Leitung vor über einem Jahrzehnt dafür gesorgt, daß das Festival auch künstlerisches Profil gewonnen hat und für Besucher mit weiterer Anreise attraktiv geworden ist. In einem groß angelegten Projekt führt er seit einigen Jahren in chronologischer Reihenfolge die frühen Opern Giuseppe Verdis auf, jedes Jahr eine andere, welche jeweils zusammen mit der Produktion eines populäreren Werkes der Opernliteratur den Kern der Festspielsaison ausmachen.
In diesem Jahr wird Verdis Giovanna d’Arco von 1845 neben dessen populären Don Carlo in der gekürzten italienischen Fassung von 1884 gestellt, beides Opern frei nach Dramen Friedrich Schillers. Dabei geht das Frühwerk als klarer Sieger hervor. Fraglos verfügt Don Carlo über die musikalisch ungleich reifere Partitur, harmonisch reicher, farbiger orchestriert, souveräner im Umgang mit den Formen und Proportionen. Und doch präsentieren die Opernfestspiele Heidenheim Giovanna d’Arco weitaus frischer, lebendiger und spannender. Das liegt neben der ambitionierteren Regie ganz wesentlich an den musikalischen Leistungen. Für die Aufführungen der jährlichen Rarität hat Marcus Bosch ein eigenes Orchester gegründet, die Cappella Aquileia. Mit deren handverlesenen Musikern gelingt es dem Dirigenten, auf modernen Instrumenten die Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis fruchtbar zu machen. Zu hören ist ein klarer, gut durchhörbarer Orchesterklang mit sprechender Phrasierung und reduziertem, klug dosiertem Vibrato. Die prominent eingesetzten Holzbläser berühren immer wieder mit Klarheit und Innigkeit. Das Blech plärrt nicht, sondern fügt sich gut in den Gesamtklang ein. Dem berüchtigten Um-ta-ta der Akkordbrechungen zur Begleitung der Arien gewinnt Bosch in zügigen Tempi federnden Drive ab. Eine differenzierte Lautstärkenabstufung trägt ebenfalls zur Belebung bei. Diese Orchesterleistung bereitet große Freude. Perfekt fügt sich der Tschechische Philharmonische Chor Brünn mit seinen jungen und schlanken Stimmen dazu, der mit schlackenlosem und kernigem Klang überzeugt. Ideal besetzt ist die Titelpartie mit der georgischen Sängerin Sophie Gordeladze. Sie verfügt über einen hell timbrierten Sopran, dem es gleichwohl nicht an dramatischer Durchschlagskraft mangelt. So kann sie stimmlich das Mädchenhafte ihrer Figur und dabei zugleich deren religiös motivierte kriegerische Inbrunst beglaubigen. Die mühelos bewältigten Koloraturen erscheinen bei ihr nicht als virtuose Kunststücke, sondern als Mittel der dramatischen Gestaltung. Héctor Sandoval in der Partie des Königs Carlo VII. hat zwar seine Glanzzeiten als Spinto-Tenor hinter sich, verfügt aber im Forte immer noch über eine metallisch funkelnde, gut ansprechende Höhe. Gleichwohl nimmt er seine Stimme immer wieder in der Dynamik zurück und offenbart dann gerade in der Mittellage eher gedeckte, glanzlosere Töne. Es spricht für die Seriosität und den Gestaltungswillen des Sängers, daß er seinen Part nicht im Dauerforte in das Publikum schmettert, sondern auch die fahleren Farben seiner Stimme ungeschönt einsetzt. Luca Grassi komplettiert das Trio der Protagonisten als Giovannas Vater Giacomo mit kernigem, durchschlagsfähigem Bariton, dem man ein wenig von dem Differenzierungswillen Sandovals gewünscht hätte.
Regisseur Ulrich Proschka hat die Handlung in das Krankenzimmer einer psychiatrischen Anstalt verlegt. Hier zeichnet die Patientin Giovanna comicartige Porträts eines Königs in Superheldengestalt, mit denen sie ihren Spind verziert. In einer nur für sie sichtbaren Parallelwelt kann sie Kontakt mit diesem Helden und seinem Gefolge aufnehmen. Sie hört dann deren Stimmen. Für ihren besorgten Vater und das medizinische Personal bleibt diese Welt unsichtbar und stumm. Das Mädchen muß wohl unter Wahnvorstellungen leiden.
Das Produktionsteam setzt diese moderne Transformation der Heiligengeschichte sinnfällig um. Die Welt des Krankenzimmers ist durch eine Bodenmarkierung von der phantastischen Welt abgetrennt. Die Wände des Zimmers werden mit einigen schlanken, senkrecht von der Decke hängenden Neonröhren angedeutet. In der nüchternen Sphäre der Psychiatrie leuchten sie in kaltem Weiß. Zu den Visionen Giovannas ändern sie ihre Farbe. Dann werden die Wände gleichsam transparent und erlauben der Titelheldin den Kontakt mit der anderen Welt. Da selbst im Libretto Szenen vorgesehen sind, in denen überirdische Stimmen zu Giovanna reden, die ihre Umgebung nicht hören kann, ergeben sich insoweit durch das veränderte Setting keine Friktionen. Immer wieder auch ist im Text von Zweifeln am Verstand der jungen Frau die Rede. Die Regie macht aber nun zusätzlich dazu auch den König samt seinem Gefolge zu Erscheinungen dieser phantastischen Welt. Sie tragen eine Mischung aus historisierend bunten Kostümen und Superheldendress samt den notorischen Masken. Auch für diese Transformation findet die Regie originelle Lösungen: Die Krönungsszene des zweiten Aktes etwa ereignet sich im Raum außerhalb des Krankenzimmers, während innerhalb des Krankenzimmers ein Exorzismus stattfindet. Giovannas Vater taucht mit einem Priester auf, der an ihr mit Kruzifix und Weihwasser eine Dämonenaustreibung versucht. Im Libretto klagt Giacomo an dieser Stelle seine Tochter vor dem versammelten Volk an, mit dem Teufel im Bund zu stehen. Seine Worte passen nun zu den Ritualen des Priesters. Wenn es dann am Ende der Szene über die Krönung heißt: „Das Ritual ist beendet“, so kann das Publikum dies bruchlos auf den Exorzismus beziehen.
Hier und an anderen Stellen zeigen sich klare Reminiszenzen an Klassiker des phantastischen Filmes, etwa „Der Exorzist“ von William Friedkin, aber auch an „König der Fischer“ von Terry Gilliam mit seinem Einbrechen von Bildern einer magischen Phantasiewelt in die graue Gegenwart. Das instruktive Programmheft nennt auch „Hellraiser“ und „Stranger Things“ als Referenzpunkte. In Pausengesprächen wird deutlich, daß jenen Teilen des Publikums, die mit diesen Referenzpunkten nicht vertraut sind, auch das Changieren zwischen realer Welt und phantastischer Parallelwelt fremd geblieben ist. Wer sich jedoch dafür aufgeschlossen zeigte, der konnte sich neben den überzeugenden musikalischen Leistungen an einer klug konzipierten, geschickt eingerichteten und von engagierten Darstellern mit Leben erfüllten szenischen Umsetzung erfreuen.
Tags zuvor bot der Don Carlo dagegen szenische Hausmannskost. Die Inszenierung von Georg Schmiedleitner baut ersichtlich auf die besondere Atmosphäre der mittelalterlichen Ruine. Die funktionalen Bühnenaufbauten (Stefan Brandtmayr) sollen das historische Gemäuer nicht zudecken. Auftritte und Aufmärsche durch die Reihen des Publikums sind auf die Freilichtsituation abgestellt. Die Premierenphotos bilden das attraktiv ab. Leider hat die Witterung am Tag der besuchten Aufführung eine Verlegung in das angrenzende Festspielhaus erzwungen. Dort nun wirkt der gerüstartige Bühnenaufbau mit einer roten Treppe als einzigem markanten Element recht karg und gesichtslos. Überwachungsmonitore sollen eine Verlegung der Handlung in eine nicht näher bestimmte Gegenwart unter der Herrschaft eines faschistischen Regimes suggerieren. Die Kostüme dazu zeigen unentschlossene Beliebigkeit zwischen moderner Phantasieuniform für König Philipp, dann wieder einen üppigen Herrschermantel samt Krone für ihn und historisierende Gewänder für die männlichen Komparsen mit spanischen Halskrausen, daneben rote Gewänder mit weißen Hauben als direktes Zitat aus der Serien-Verfilmung von Margaret Atwoods dystopischem Roman „The Handmaid’s Tale“ für die weibliche Dienerschaft. Das ist aber auch egal, weil sich aus der einen wie der anderen Reminiszenz für die Handlung nichts ergibt. Der Großinquisitor tritt gar als Transvestit in weißem Reifrock auf. Das soll wohl kirchenkritisch sein. Platter geht es kaum. Völlig unplausibel ist es zudem, daß seine Rolle mit der des Mönches zusammengelegt wird, denn so singt am Ende der Verfolger auch noch den Text des Retters. Die Personenregie begnügt sich mit Auf- und Abtritten am Libretto entlang und überläßt es den Darstellern, sich mit Allerweltsgestik über Wasser zu halten.
Gesungen wird auf ordentlichem Niveau. Sung Kyu Park in der Titelrolle zeigt kraftvolle Spintoqualitäten, könnte aber sein Dauerforte gerne mit etwas abgestufterer Dynamik stärker ausdifferenzieren. Dieses Mehr an Differenzierungskunst besitzt Lada Kyssy als eher hell timbrierte Elisabetta mit gleichwohl raumfüllender Stimme. Kraftvoll bringt Ivan Thirion seinen kernigen Bariton für den Posa zum Einsatz. Sein ausladendes Vibrato ist Geschmackssache. Pavel Kudinov formt den Filippo mit noblem Baßbariton eher zurückhaltend und gestaltet seine große Klagearie „Ella giammei m’amò“ („Sie hat mich nie geliebt“) sehr eindrücklich. Aus gröberem Holz geschnitzt ist der Baß von Randall Jakobsh, der dem Großinquisitor brutale Züge verleiht. Die überzeugendste Einzelleistung liefert Zlata Khershberg als Eboli ab, deren Mezzo über eine samtig-dunkle Mittellage und eine glutvolle Höhe verfügt. Dementsprechend gelingt ihr „O don fatale“ mit hinreißender Intensität. Wie man es bei derart üppigen Stimmen oft erlebt, muß sie sich jedoch beim filigraneren Schleierlied zu Beginn ein wenig durch die Koloraturen und Verzierungen mogeln. Im Orchestergraben haben dieses Mal nicht die Musiker der Cappella Aquileia Platz genommen, sondern die Stuttgarter Philharmoniker, die ihre Sache ordentlich machen, mehr aber auch nicht. Marcus Bosch schlägt überwiegend zügige Tempi an, hält den Laden gut zusammen, erzeugt aber nicht annähernd die energiegeladene Atmosphäre wie mit seinem Spezialensemble in Giovanna d’Arco. Von außerordentlicher Qualität zeigt sich wieder der Tschechische Philharmonische Chor Brünn. Schon die Mönchsgesänge am Beginn erklingen in nie gehörter Klarheit. Diese lupenreine Intonation bei sparsamem Vibrato bekommen selbst die besten Opernchöre nicht hin. Der Klang ist schlanker als gewöhnlich und zugleich von einer ungeheuren Intensität.
Der rollendeckend besetzte und insgesamt solide Don Carlo hebt die Festspiele Heidenheim nicht aus der Masse gleichartiger Veranstaltungen heraus. Die Giovanna d’Arco verleiht dem diesjährigen Programm jedoch großen Glanz, der überregionale Wahrnehmung verdient. Völlig zu Recht wird diese Produktion auf Tonträger dokumentiert. Womöglich haben Marcus Bosch und seine Musiker hier ein Stück für das Repertoire zurückgewonnen. Zudem ist der Beweis geführt, daß auch und gerade früher Verdi durch eine szenische Produktion enorm gewinnen kann.
Michael Demel, 24. Juli 2023
Opernfestspiele Heidenheim
Giuseppe Verdi: Giovanna d’Arco
Besuchte Vorstellung: 22. Juli 2023 (Premiere: 20. Juli 2023)
Inszenierung: Ulrich Proschka
Musikalische Leitung: Marcus Bosch
Cappella Aquileia
Giuseppe Verdi: Don Carlo
Besuchte Vorstellung: 21. Juli 2023 (Premiere: 7. Juli 2023)
Inszenierung: Georg Schmiedleitner
Musikalische Leitung: Marcus Bosch
Stuttgarter Philharmoniker