Seit Mai 1981 steht diese Produktion (Regie: Giorgio Strehler, Bühne: Ezio Frigerio, Kostüme: Franca Squarciapino) auf dem Programm der Scala und wurde seither in acht verschiedenen Jahren wieder aufgenommen, unterbrochen nur 2016 von der katastrophalen Regie von Frederic Wake-Walker, eine Produktion, die zum Glück umstandslos entsorgt wurde. Die vorliegende Inszenierung wurde allerdings noch 2002 von Michael Heltau betreut, während seit 2006 Marina Bianchi für die Auffrischung sorgt. Bei jeder Wiederaufnahme gehen, ob man will oder nicht, Feinheiten verloren und kommt – was vielleicht schlimmer ist – Neues dazu. Ein Beispiel: Im 1. Akt wirft Figaro dem Grafen einige von den Bauernmädchen verstreute Blüten ins Gesicht – eine herausfordernde Frechheit, die der Graf sicher streng geahndet hätte. Die mit ihren schnörkellosen, geraden Mauern und genau abgezirkelten Lichteffekten (nur das letzte, das Gartenbild, hat eine berückende Atmosphäre) mit höchster Präzision zu interpretierende Regie unterliegt (wenn wir schon von historischen Produktionen sprechen wollen) meiner Meinung nach der von Jean-Pierre Ponnelle, die lebendiger, „menschlicher“ daherkommt.
Große Freude bereitete mir hingegen die musikalische Leitung von Andrés Orozco-Estrada, der mit seinem Scaladebüt sofort überzeugen konnte. Er ließ das Orchester des Hauses mit viel Temperament spritzig aufspielen – ich kann mir vorstellen, dass in seine Interpretation auch seine Wiener Erfahrungen eingeflossen sind.
Figaro war, wie schon vor zwei Jahren, der vielseitige Luca Micheletti, dessen warm timbrierter Bariton neuerlich zu gefallen verstand, während mir sein Spiel, obwohl überaus gelenkig, teilweise marionettenhaft typisiert schien. Allerdings war seine Zukünftige nicht leicht zu einem gewinnenden Zusammenspiel zu bringen, denn Benedetta Torre war eine ausgesprochen hantige Susanna von säuerlichem Stimmklang, was der Rosenarie jede Poesie nahm. War man meist daran gewöhnt, dass Figaro di „bassigere“ Stimme hat und der Graf ein Bariton ist, so war es in diesem Fall umgekehrt, denn Ildebrando D’Arcangelo, ein seltener Gast an der Scala, gab den Schürzenjäger. Er zeigte neuerlich, dass er ein ausgezeichneter Mozartinterpret ist, technisch einwandfrei und von sonorem Klang. Allerdings schien er mir eine Spur zu brutal im Auftreten, kein wirklicher Herr. Intendant Meyer ist eine treue Seele und hat gleich drei Damen aus Wien mitgebracht: Olga Bezsmertna war leider stimmlich und szenisch eine farblose Gräfin, trotz guter vokaler Momente (z.b: die schönen filati in ihrer zweiten Arie).
Svetlana Stoyanova hingegen war mit kleinem, aber schön timbriertem Mezzo und lebhaftem Spiel ein liebenswerter Cherubino. Rachel Frenkel schließlich gab mit einer Stimme von durchschnittlicher Qualität eine recht jugendlich wirkende Marcellina, der in Andrea Concetti ein stimmlich hinfälliger Bartolo zur Seite stand. Ein sichtlich junger Lodovico Filippo Ravizza verkörperte mit sicherem Auftreten und einem vielversprechend klingenden Bariton den aufbrausenden Gärtner Antonio. Auch Paolo Antonio Nevi war merklich jung und stotterte gekonnt den Don Curzio. Als Basilio war Matteo Falcier vor zwei Jahren auch schon dabei und lieferte eine zufriedenstellende Leistung ab. Die herzige kleine Barbarina der Mariya Taniguchi verfügte über fast zu viel Stimme für die Rolle und gab damit zu Hoffnungen Anlass.
Die erste Arie der Gräfin blieb ohne Applaus, alle anderen Nummern wurden höflich bedankt. Das sehr volle Haus (Abonnement und Touristen) spendete Beifall in einem Maß, das für zwei Vorhänge des gesamten Ensembles und einmal Einzelvorhänge reichte.
Eva Pleus 13. Oktober 2023
Le nozze di Figaro
Wolfgang Amadeus Mozart
Teatro alla Scala
10. Oktober 2023 (vierte Vorstellung)
Premiere am 30.9.2023
Regie: Giorgio Strehler (11. Wiederaufnahme seit 1981)
Dirigent: Andrès Orozco-Estrada
Orchestra del Teatro alla Scala