Die noch relative junge Inszenierung von Giuseppe Verdis „La traviata“in der Regie von Simon Stone, der bekanntermaßen Theaterstücke, aber nach Möglichkeit auch Opern gern mit neuen Sichtweisen überschreibt, erlebte im Oktober eine Wiederauflage an der Wiener Staatsoper. Violetta Valéry ist bei Stone keine von Beginn an krankheitsbedingt leidende Kurtisane, was er irrtümlicherweise gar nicht im Stück zu erkennen glaubt. Denn erstens sagt es der Titel in der Wahrnehmung der damaligen Zeit ganz klar. Zweitens sagt Germont im entscheidenden Duett mit Violetta „Denn vom Himmel wurde diese Verbindung nicht gesegnet.“ Das kann wohl kaum gemeint sein, wenn Violetta, was sie bei Stone nach eigenen Angaben im Gespräch mit dem Staatsoperndirektor sein soll, nämlich keine Kurtisane, sondern lediglich aus niedrigem Hause stammend und das Geld, welches Alfredo später in einem Wutausbruch auf sie wirft, lediglich als Bezahlung ihrer Schulden gemeint ist.
Da sieht man einmal wieder, wie die Regie ein ursprüngliches Rollenprofil umdreht, damit es in das Konzept passt, ohne Rücksicht auf die dazu komponierte Musik. Den vorläufigen Höhepunkt dieses Inszenierungsstils werden wir übrigens mit dem bald ans Wiener Haus kommenden „Lohengrin“ von den Salzburger Osterfestspielen erleben. Nein, bei Stone ist Violetta nun eine weitbekannte IT-Influencerin, die auch noch ihre eigene Parfum-Kollektion vermarktet und als Partygirl mit gekünsteltem Charme bei einer total durchgeknallten Party-Gesellschaft in entsprechenden Kostümen von Alice Babidge reüssiert. Der Traktor für die Szene auf dem Land – in Paris, wo die Koproduktion läuft – ist es eine Kuh zum Melken durch Valery, da machten die Tierhüter in Wien nicht mit, passt aufgrund der allzu weit hergeholten Bemühung um Kontrast und vermeintliche Authentizität nicht dazu, beziehungsweise wie die Faust aufs Auge.
Bedenklich ist aber speziell in diesem Bühnenbild, dass Bogdan Roščić und Simon Stone sich offenbar einig sind in der Ablehnung der – vermeintlich – „stereotypen Meinung in der Opernwelt“ gegen einen intensiven Einsatz von Videos in neuartiger Form, weil es zwar gut aussehe aber von Musik und Bühne ablenke. Nichts ist gegen eine wohl dosierte Verwendung des Darstellungsmittels Video zu sagen. Wenn man aber wie in den Bühnenbildern von Robert Cousins über alle Maßen mit WhatsApp-Videos von Zakk Hein und ähnlichen Text-Botschaften überflutet wird und während des Violetta-Germont-Duetts auch noch über den ganzen Bühnenhintergrund übergroße gegenläufige Schriftreihen sieht, die von der Ablehnung der Liaison durch einen saudischen Prinzen zeugen, dann versucht man natürlich automatisch mitzulesen. Und dann tritt genau das ein: man wird vom Bild und vor allem von der Musik abgelenkt, es sei denn, man ist ein begnadeter Multitasker. Wieder einmal nimmt in dieser Inszenierung das Video eine viel zu große Stellung ein. Aber das scheint ein unaufhaltsamer Trend zu sein, nicht unbedingt zum Vorteil der Oper als das, was sie ist, Musiktheater. Und musste es überhaupt gleich ein saudischer Prinz sein?! Das wirkte in der Tat stereotyp (saudisch = ultrareich und damit begehrt von den Germonts) wie ein Wink mit dem Zaunpfahl und auch angesichts des überaus biederen Auftretens von Germont völlig unglaubwürdig und aufgesetzt.
Diese also in großen Teilen fragwürdige Inszenierung fand zumindest an diesem Abend ihre vollumfängliche Rettung in den drei Protagonisten, Lisette Oropesa als Violetta, Juan Diego Flórez als Alfredo und Ludovic Tézier als Giorgio Germont. Lisette Oropesa verzauberte von Anfang an das Publikum mit einem an Authentizität und darstellerischer Intensität kaum zu überbietenden Auftritt und gestaltete die Partie mit ihrem vornehmlich lyrisch timbrierten, aber zu guter Attacke sowie Koloraturen fähigen Sopran auf klangvollste Weise. Juan Diego Flórez passt optisch bestens zu ihr und ließ wieder guten Belcanto erklingen, wenngleich seine Stimme für diese doch etwas mehr fordernde Rolle bisweilen zu schmal ist. Ludovic Tézier war ein in jeder Hinsicht erstklassiger Giorgio Germont mit seinem balsamisch klangvollen Bariton. Bedauerlicherweise wurde er eben in ein viel zu enges Spießer-Outfit gezwängt. Alma Neuhaus überzeugte als Flora Bervoix und Noa Beinart als Annina. Die weiteren Nebenrollen waren gut besetzt.
Pier Giorgio Morandi von der Mailänder Scala schuf mit dem Orchester der Wiener Staatsoper einen guten Verdi-Klang und vor allem etwas Ruhe angesichts des sich fast ständig drehenden Bühnenbildes mit neuen Szenen. Martin Schebesta hatte den Chor der Wiener Staatsoper bestens einstudiert, sodass die großen Party-Szenen wenigstens musikalisch einwandfrei gelangen.
Klaus Billand, 18. Oktober 2023
La traviata
Giuseppe Verdi
Wiener Staatsoper
Besuchte Vorstellung: Wiederaufnahme am 6. Oktober 2023
Regie: Simon Stone
Dirigat: Pier Giorgio Morandi
Orchester der Wiener Staatsoper