Erst vor wenigen Wochen war es in Bayreuth zu hören: Händels „Dixit Dominus“, ein außergewöhnlich dramatisches Werk der Kirchenmusik des Barock, geschrieben von einem jungen Genie. Das Internationale Festival Junger Künstler brachte es zur Aufführung, kurz zuvor hatte ich das Glück, eine Probe mit dem Chor zu erleben. Der erste Abbruch kam im August schon nach vier Takten. Die Leiterin dirigierte, mit den Fingern schnippend, dann demonstrierte sie den Choristen, wie ein „aa“ hochschwingend zu klingen hat. Die Soprane hielten den schönen, langen Ton, aber… Im „Aber“ lag die nächste Stunde im Pfeffer. Kurze Gespräche mit den Sängern wechselten sich mit gesungenen Phrasen ab, einzelne Gruppen wurden herausgeholt, insbesondere die Soprane wurden immer wieder geprüft. „Inimicos“ ist, mit der Betonung auf „mi“, eine besonders markante Stelle, die noch einmal geprobt – und wiederholt und wiederholt wurde. Während der Hausmeister im ersten Stock die Bierflaschen des letzten Abends einsammelte, gab die Dirigentin zu ebener Erde die Akzente genau vor. Zwischendurch dirigierte sie, indem sie lediglich klatschte. Man sang – und man brach ab. Nochmal – und nochmal. Das Konzert war dann sehr schön.
Ich weiß nicht, wie Sebastian Ruf seinen Kammerchor einstudiert, aber hört man sich den ersten Satz des „Dixit Dominus“ an, kommt man zum Schluss, dass er sehr effektiv proben muss. Musikalische Interpretation besteht ja, nicht einmal wenn’s um geistliche Musik geht, am allerwenigsten aus Sentiment und dem, was man gemeinhin „Gefühl“ nennt. Es besteht aus Präzision, Taktsinn, Abstimmungen, damit am Ende – beim Zuhörer – ein Gefühl provoziert wird. Das Wort klingt musikfern, aber in Zusammenhang mit dem dritten Satz aus Vivaldis Magnificat RV 610 fällt einem das Wort „Linienabgleich“ ein. Die 25 Sänger und Sängerinnen, die in der Schlosskirche vor dem kleinen Ensemble Nürnberg Barock stehen, lassen die Crescendi und Decrescendi wie selbstverständlich an- und abschwillen (ein Effekt des Trainings der Kehlköpfe). Das Verhältnis zwischen Einzel- und Gesamtklang lässt sich am vierten Satz von Bachs Kantate BWV 150 „Nach dir, Herr, verlanget mich“ gut studieren, genaue Akzentsetzungen besonders schön im dritten Satz des „Dixit Dominus“. So schlank und durchsichtig, wie der einleitende Magnificat-Satz kommt, kommt die Monumentalität in Händels fünftem und siebentem Satz; der Klang wölbt sich da buchstäblich wie eine Kuppel über Sängern und Publikum auf. Kammermusik ist hier viel: das lyrische Duett „De torrente in via bibet“ wird von den beiden Solo-Sängerinnen so anheimelnd gebracht, dass es auch zur Zugabe taugt. Übrigens: Nicht jede Einzelstimme muss richtig gut sein, um im Ganzen des Chors seinen Teil zum gelungenen Klang beizutragen (das gilt nicht allein für den Chor der Bayreuther Festspiele). Am Ende freut man sich über die Zusammenstellung von drei repräsentativen Stücken dreier Meister des sog. Barock, auch wenn BWV 150 in seiner Authentizität umstritten ist und den jungen Bach, sollte das Werk von ihm stammen, noch auf dem Weg zum reifen Bach zeigt – aber Wirkung macht auch die sparsam besetzte, in den Sätzen relativ kurze Kantate. Tatsache ist, dass wir mit diesem Stück eine programmatisch dichte, vom ersten bis zum letzten Satz stimmungsmäßig zusammenhängende Komposition vor uns haben, die alle Bemühung lohnt – und geradezu ideal für die Möglichkeiten eines kleinen Ensembles ist. Extralob für die Violoncellistin, die das Terzett „Zedern müssen von den Winden“ mit durchlaufenden Sechzehntelfiguren herzhaft begleitet. Ansonsten hat auch der Chor bei Bach bekanntlich jede Menge kleine Noten zu singen; Ruf dirigiert das zügig und frisch. Die Devise lautet: „Nicht schleppen“, aber nicht hudeln“.
Abgesehen davon, ist es immer schön, einem der erfrischenden Werke Vivaldis zu begegnen. Ob der Chor Spaß dabei hat, die finale Doppelfuge zu singen? Auch sie gelingt glänzend.
Frank Piontek, 30. Oktober 2023
Dixit Domiinus
Werke von Bach, Händel und Vivaldi
Schlosskirche Bayreuth, 29. Oktober 2023
Leitung: Sebastian Ruf
Kammerchor der Schlosskirche
Ensemble Nürnberg Barock