Berlin: „Anna Bolena“, Gaetano Donizetti

Dank schuldet der „moderner“ Regie abholde Zuschauer dem britischen Königshaus, denn wenn dieses nicht seit Jahrhunderten konservativ, ja altmodisch Traditionen verhaftet wäre, könnte er sich nicht an einer Produktion von Donizettis Anna Bolena in weitgehend zumindest historisch angehauchten Kostümen erfreuen. So jedenfalls äußert sich Regisseur David Alden im Programmheft, das wie immer aufschlussreich ist und zugleich eine Warnung an Meghan Merkle darstellt, denn es vergleicht die Titelheldin der Oper mit der Gattin von Prinz Harry, und man kann für sie nur hoffen, dass dieser sich nicht als ein Enrico VIII entpuppt. Da aber zugleich auch Scheherazade zum Vergleich herangezogen wird, muss sich die Herzogin wohl nicht allzu viele Sorgen machen, denn bekanntlich überlebte die orientalische Prinzessin. So viel zu den Überlegungen eines Regisseurs, der zudem den Träger der Bassrolle als die im Mittelpunkt des Dramas stehende Figur sieht, was offensichtlich Komponist und Librettist nicht so sahen, denn er hat kein einzige Arie.

© Bettina Stöß

Dreimal hat Donizetti die englische Königin Elisabeth I. in den Mittelpunkt einer seiner Opern gestellt: in Il Castello di Kenilworth, in Maria Stuarda und in Roberto Devereux, und jedes Mal ist sie die Unterlegene im Kampf um den geliebten Mann. Für Anna Bolena hatte sie der Komponist nicht vorgesehen, obwohl es schließlich um die Hinrichtung ihrer Mutter ging, sie aber zum Zeitpunkt von deren Verurteilung erst zwei Jahre alt war. David Alden dichtet ihr einige Jahre mehr an, was ihm die Möglichkeit für manch eindrucksvolle Szene bietet, in der die kleine Mirabelle Heymann viele Sympathien sammelt und man am Ende froh ist, dass der Vater seine Drohung, auch sie töten zu lassen, nicht umsetzt.

Die Ausstattung an der Deutschen Oper stammt von Gideon Davey, der, was die Kostüme betrifft, doch mehr Nichthistorisches auf die Bühne bringt, als die Pressefotos vermuten lassen, bei den Kostümen fast nur den König mit ihm Angemessenem bedenkt, während die Damen des Chors sich aus dem Fundus der BBC-Serie Call the Midwife, die nach dem Zweiten Weltkrieg spielt, bedient zu haben scheinen, bei den Requisiten Britisches mit Regenschirmen, Times und schäbigen Union Jacks, die teilweise auch noch im Staub landen, verhohnepiepelt wird, aber insgesamt doch die leichte Hand, die der Ironie, aber nicht die des Sarkasmus‘ waltet. Daneben darf man in Abgründe auf der Videowand schauen oder sich von seltsamen Tiermenschen erschrecken lassen. Inwieweit die inszenatorische Milde der Tatsache zu verdanken ist, dass die Produktion aus Zürich stammt, lässt sich nur erahnen. Streckenweise wird vor die helle Wand aus Quadern ein Halbrund wie aus Holz herabgelassen, was sich sicherlich sängerfreundlich auswirkt.

© Bettina Stöß

So wie die Optik nicht die historisch getreue einer Wiener Staatsoper oder der Met ist, so sind die Sänger nicht eine Netrebko oder eine Garanca, und das ist auch gut so. Stars erlebt man in der Deutschen Oper nicht am laufenden Band, dafür aber immer wieder neue und interessante Stimmen. Zwar ließ sich der mexikanische Tenor René Barbera mit einer Erkältung ansagen, was seinen therapeutischen Effekt nicht verfehlte, so dass er zunehmend an Mut und Einsatzfreudigkeit zulegte und nicht nur erahnen ließ, dass mit ihm ein vorzüglicher Belcanto-Tenor bei Operalia ausgezeichnet wurde, der optisch wie vokal an den jungen Ramon Vargas erinnert. Eher spröde als balsamisch klang der Bass von Riccardo Fassi, für den Enrico, für den er allerdings eine das historische Vorbild überstrahlende Physis einsetzen konnte. Mit angenehmem Bariton verlieh der Ire Padraic Rowan dem Dauerleiden des Rochefort sonoren Ausdruck. Der Stipendiat Chance Jonas-O’Toole setzte für den fiesen Sir Hervey seinen Charaktertenor ein. Karis Tucker sang mit eher mütterlich-warmem als knabenhaftem Mezzosopran den unseligen Smeton. Gar nicht besonders voneinander ab stechen die Stimmen der beiden Rivalinnen Anna und Giovanna, da der Sopran von Federica Lombardi viele schöne Farben und diese auch in der hoch präsenten Mittellage hat, dazu mit einem klangvollen Piano prunken kann. Ihre große Abschiedsszene wurde nicht nur zum Schluss-, sondern auch zum Höhepunkt des beglückenden Abends, da sängerische Virtuosität nie Selbstzweck, sondern berührende Darstellung eines Seelenzustands zu sein schien. Davor hatte sich trotz scheußlicher Frisur und Gewandung auch Vasilisa Berzhanskaya als Seymour behaupten können mit einem leuchtenden Mezzosopran wie aus einem Guss. Aber nicht nur die Solisten, auch der Chor (Jeremy Bines) und ganz besonders die Chordamen bei ihrem Abschied von Anna verdienen höchstes Lob.

© Bettina Stöß

Die Deutsche Oper Berlin bringt die kritische Edition der Fondazione Donizetti di Bergamo auf die Bühne und entscheidet sich damit für eine Länge der Vorstellung von über drei Stunden. Heute ist Bergamo der Hort der Donizetti-Pflege, nicht zuletzt wegen des alljährlich im Herbst stattfindenden Festivals, die Uraufführung allerdings fand 1830 in einem Privattheater in Mailand statt mit Giuditta Pasta und dem „Erfinder“ des Do di petto, Rubini, als Anna und Percy. Nach einer langen Durststrecke für die Freunde des Belcanto erlebte Anna Bolena 1957 eine Art Wiederauferstehung mit Gavazzenis und Viscontis Produktion, in der Titelpartie Maria Callas. Die durften allerdings schon nach gut zwei Stunden das Opernhaus wieder verlassen, während man in der Deutschen Oper gern ganze dreieinhalb derselben verbrachte. Für die Kurzweiligkeit anstelle von Langerweile sorgte ganz entscheidend auch das Dirigat von Enrique Mazzola, der nicht dem falschen Ehrgeiz frönte, einen frühen Verdi aus dem Orchestergraben schallen zu lassen, sondern dem Belcanto gab, was der Belcanto verlangt. Das Publikum feierte alle Mitwirkenden gleichermaßen, und die Deutsche Oper hat ein Schmuckstück für den Spielplan gewonnen, das es in teilweise alternativer Besetzung auch noch in einem zweiten Durchlauf in dieser Spielzeit zu erleben gibt.

Ingrid Wanja, 16. Dezember 2023


Anna Bolena
Gaetano Donizetti

Deutsche Oper Berlin

Besuchte Premiere am 15. Dezember 2023

Inszenierung: David Alden
Musikalische Leitung: Enrique Mazzola
Orchester der Deutschen Oper Berlin