Wer kennt und liebt nicht den auf YouTube erlebbaren Auftritt von Christa Ludwig beim Tanglewood-Festival mit dem Tangolied der alten Lady aus Bernsteins Candide? Dass Komponist und Sängerin voneinander begeistert waren, merkt man nicht nur beim Ansehen- und -hören dieses Filmausschnitts, sondern auch beim Lesen eines Kapitels von Michael Horowitz‘ Buch Leonhard Bernstein-Magier der Musik, zu dem die Sängerin einen Beitrag mit der Überschrift „Eine Kerze, die an zwei Enden brennt“ geleistet hat. Die erste gemeinsame Arbeit war zwar die Aufführung von Mahlers 2. Sinfonie, aber bei der ersten Begegnung hatte Bernstein die Ludwig sofort zu „seiner“ Marschallin erwählt, aus der Zusammenarbeit erwuchs eine Freundschaft und die Bereitschaft zum Verstehen und Verzeihen, da schließlich der Amerikaner sich seine Jünglinge nicht wie andere (und da wird mit Namen nicht gegeizt) „von der Straße geholt hatte“. Dass es auch ganz anders kommen konnte, beweist die Aussage von Gundula Janowitz, der er als Fidelio-Leonore Gwyneth Jones vorgezogen hätte und die er deswegen bei den Proben und Aufführungen erbarmungslos schnitt, um ihr dann beim Schlussvorhang der Premiere einen unerwünschten Kuss aufzudrücken. Diesem peinlichen Erlebnis verdankt der Leser allerdings eine Weisheit, die er sich zu eigen machen sollte: „Wer nachträgt, hat viel zu tragen“. Diese als negativ empfundene Begegnung ist eines der ganz wenigen Zeugnisse, das der allgemeinen Tendenz widerspricht, dass Bernstein alle Menschen heiß und innig liebte und wiedergeliebt wurde. Otto Schenk liefert die wohl schönste Bestätigung dafür, aber auch Kurt Rydl, der in Bernstein „einen Weltstar mit natürlicher Größe“ sieht.
Es geht in Horowitz‘ Buch, der sich seinem Gegenstand dadurch verwandt fühlt, dass beider Vorfahren aus einem galizischen Stetl stammten, nicht nur um Neigungen und Abneigungen, sondern um eine rastloses Künstlerleben „voller kalkulierter Ekstase“, um einen unerhörten Aufstieg innerhalb einer Generation, bereits den Vater betreffend, nicht zuletzt auch um den Kampf eines genialischen Geistes gegen einen von Geburt an und zunehmend mit den Zumutungen durch Alkohol- und Tabakgenuss kämpfenden schwächlichen Körper, dem immer wieder Höchstleistungen als Dirigent, Komponist, Pädagoge abgerungen werden müssen.
Ausgerechnet mit Wagners Meistersinger-Ouvertüre erlebt Bernstein als Dirigent einen seiner ersten Triumphe, ein ehemaliger SS-Unterstandarten-Führer gründet für ihn das erste europäische Bernstein-Festival und ausgerechnet die Wiener Philharmoniker, die sich erst einmal Mahler verweigern, werden sein Lieblingsorchester. Mit ebenso viel Herzblut dirigiert Bernstein das erste israelische Orchester, wie er in Berlin zum Mauerfall eine Ode an die Freiheit zelebriert.
In kurzen, nur wenige Seiten umfassenden Kapiteln wird, gleichzeitig chronologisch gegliedert wie thematisch geordnet, angenehm lesbar und nie den Leser ermüdend, ein Lebensbild nachgezeichnet, wobei die Kapitelüberschriften oft eine Aussage über Bernstein sind, während er unter dieser mit einem eigenen Zitat vertreten ist. So schillernd der Charakter des Titelhelden ist, so vielfältig sind die Personen der Zeit- und Kulturgeschichte, mit denen er in Kontakt tritt, wobei der Verfasser es oft nicht dabei bewenden lässt, diese Begegnungen zu schildern, sondern weit ausholt zu deren sonstiger Geschichte. Das ist so bei den Kennedys, und in diesem Zusammenhang kann sich Horowitz nicht einmal verkneifen, darauf hinzuweisen, dass man Henry Kissinger, Gast der Präsidentenfamilie, stets neben eine vollbusige Dame setzen musste. Interessant und auch so geschildert, dass man des Lesens nie überdrüssig wird, man stets gespannt auf Weiteres bleibt, sind die Verbindungen, ob erotischer, freundschaftlicher und künstlerischer Natur (wobei oft die Grenzen nicht scharf gezogen sind), so mit Glenn Gould, Dmitri Mitropoulos, Justus Frantz, Marcel Prawy, der die West Side Story an die Volksoper brachte und auch sonst ein treuer Gefolgsmann Bernsteins war. Wie weit die Spanne der Freundschaften reichte, zeigen die Namen Michael Jackson und Helmut Schmidt. Auch keine festen Grenzen sieht Bernstein zwischen U- und E-Musik, holt die amerikanische Jugend in die Konzertsäle und verbindet Konzertkarte und Picknickkorb miteinander.
Ob zwischen Karajan und Bernstein Feindschaft, Rivalität oder gegenseitige Anerkennung herrschte, wird ausführlich und Erkenntnisse bringend erörtert. Wenn dann auch noch die Brüskierung der sowjetischen Machthaber durch einen Besuch bei Boris Pasternak und das Eintreten für die schwarze Bevölkerung einen Platz im Buch finden, dann kann sich dieses mit einiger Berechtigung Die Biographie nennen.
Um dieser auch noch die letzte Vollständigkeit zu verleihen, werden sogar die Lieblingshotels in verschiedenen Städten nicht nur aufgeführt, sondern beschrieben, die Vorliebe für Vanillekipferl, und selbst einem Wiener Arzt wird die Ehre zuteil, in das Buch einzuziehen, kurzum, nach der Lektüre hat der Leser den beruhigenden Eindruck, nun wirklich alles über Leonard Bernstein zu wissen.
Ingrid Wanja, 14. Januar 2024
Michael Horowitz:
Leonard Bernstein – Magier der Musik
Die Biographie
Amalthea Verlag Wien 2017
240 Seiten
ISBN 978 3 99050 099 6