Torre del Lago: „Edgar“ und „Le Willis“, Giacomo Puccini

Le Willis / © Andrea Maionchi

Zu Puccinis 100. Todestag gesellte sich heuer das 70. Jubiläum des dem Komponisten gewidmeten Festivals in jenem Ort am Lago di Massaciuccoli in der Nähe von Viareggio, in dem Puccini ab 1899 bis zu seinem Tod gewohnt hat, und wo er auch mit seiner Familie begraben ist. Von der Aufführung eines seiner Werke am See hatte er noch in seinem Todesjahr 1924 geträumt. Dieser Traum wurde am 24. August 1930 Realität, als Pietro Mascagni „La Bohème“ dirigierte. Durch den starken Publikumszuspruch ermuntert, wurde das Festival langsam zur Institution, wobei es aber zu Unterbrechungen durch den 2. Weltkrieg und andere Widrigkeiten kam. Seit 2008 besteht die Struktur eines „richtigen“ Theaters für 3200 Zuschauer mit Künstlergarderoben und Probesälen. Im Laufe der Jahre sind zahlreiche namhafte Künstler hier aufgetreten (persönlich war ich 1964 bei einer „Tosca“ mit Tito Gobbi und Mario Del Monaco vor Ort).

Le Willis / © Andrea Maionchi

Zum künstlerischen Leiter des Jubiläumsjahres wurde Pier Luigi Pizzi berufen, der beschloss, die Werke des Meisters chronologisch aufführen zu lassen, wobei er sich der beiden Erstlinge, die am selben Abend gegeben wurden, selbst annahm. Ursprünglich in umgekehrter Reihenfolge angekündigt, wurde als erstes Stück „Edgar“ gegeben, Puccinis zweite Oper. Das nie genug geschmähte Libretto von Ferdinando Fontana aus dem Kreis der „Scapigliati“ basiert auf dem Stück „La coupe et les lèvres“ von Alfred de Musset, in welchem es um Grundsatzfragen zwischen Gut und Böse geht, also nicht unbedingt ein theatralisch zündendes Thema. Fontana verlegte die Handlung vom 14. ins 19. Jahrhundert und legte den Text im starken Gegensatz zu Puccinis Interessen und Fähigkeiten auf große Tableaux und Aktschlüsse als eine Art Grand-Opéra an, die den Komponisten nicht zu inspirieren vermochte. Dementsprechend fiel die Oper 1889 bei ihrer Uraufführung an der Scala durch; Puccini ist es trotz mehrfacher Versuche (z.B. Reduzierung auf drei Akte) nie gelungen, seinem Schmerzenskind zum Erfolg zu verhelfen. Zu einförmig und ohne Höhepunkte schleppt sich die Handlung dahin, die die treu liebende Fidelia der zigeunerhaften, sinnlich entfesselten Tigrana gegenüberstellt. Letzterer folgt Edgar in ein Leben ohne alle sittlichen Hemmungen, um sich dann seiner braven Geliebten zu entsinnen und zur Sühne in den Krieg zu ziehen . Um die Wahrheit herauszufinden, inszeniert er, unterstütz von Fidelias Bruder Frank (selbst ein früherer Anbeter Tigranas) sein eigenes Begräbnis, bei dem er, als Mönch verkleidet, Schimpf und Schande über den angeblich toten Edgar bringt. Fidelia verteidigt ihn rückhaltlos, Tigrana lässt sich bestechen, um Edgar Vaterlandsverrat vorzuwerfen. Das empörte Volk steht schließlich vor dem leeren Sarg, verjagt Tigrana und jubelt Edgars bevorstehender Hochzeit mit Fidelia zu. Der in Torre del Lago dankenswerterweise gegebene vierte Akt enthält die meiste auf Puccinis künftiges Niveau weisende Musik. Im Liebesduett Sopran-Tenor darf man auch kurz an „Tosca“ denken. Der Akt endet damit, dass Tigrana sich heranschleicht und Fidelia hinterrücks ersticht. Edgar bleiben nur mehr Zusammenbruch und Verzweiflung.

Edgar / © Andrea Maionchi

Als Regisseur und sein eigener Bühnen- wie Kostümbildner bediente sich Pizzi einer LED-Wall, nicht zu verwechseln mit Videoprojektionen. Man sah die Hausfassaden des Dorfs (die Handlung spielt in Flandern), davor blühende Bäume, die brannten, als Edgar einen Brand in seinem Vaterhaus legt, oder auch je nach Stimmung kahl waren. Der schwierige zweite, auf einem Schloss spielende, Akt mit seinen Orgien war mit halbnackten Tänzern in roten Kostümen ausgezeichnet gelöst, eine Seltenheit bei dieser Art von Szenen (Choreographie: Gheorghe Iancu). Dem Element, das sie zu verkörpern hatten, gemäß war Fidelia weiß, Tigrana rot gekleidet, das Volk in einfacher Tracht, die Soldaten in Uniform.

Massimo Zanetti bemühte sich mit dem Orchestra del Festival Puccini um eine überzeugende Wiedergabe, auf ihrem Posten Chor und Kinderchor del Festival Puccini unter Roberto Ardigò bzw. Viviana Apicella. Für die dramatische Titelrolle mit ihrer hohen Tessitura war der angenehm timbrierte Tenor des Ukrainers Vassilii Solodkyy etwas zu leicht, aber der Künstler hielt sich tapfer (2008 in Turin sang José Cura die Rolle). Ausgezeichnet die beiden Damen: Die Russin Lidia Fridman schenkte der Fidelia mehr Charakter als ihr die passive Rolle abverlangte und verlieh ihrem charakteristisch gefärbten Sopran zahlreiche Nuancen (ihr gehörte auch der einzige Szenenapplaus des Abends). Die Georgierin Ketevan Kemoklidze gestaltete mit ausladendem Mezzo eine temperamentvolle, ja szenisch furiose Tigrana. Blass blieb mit trockener Stimme Vittorio Prato als Frank, berührend sang Luca Dall’Amico Gualtiero, Fidelias Vater.

Edgar / © Andrea Maionchi

„Le Willis“ hingegen war für den Wettbewerb 1883 des Musikverlegers Sonzogno geschrieben, auch auf ein Libretto von Ferdinando Fontana. Verlangt wurde ein Einakter mit symphonischen Zwischenspielen, aber die Jury vergab nicht nur keinen Preis für Puccinis Komposition, sondern erwähnte sie nicht einmal ehrenhalber. Wenig später spielte Puccini seine Musik auf dem Klavier in einem literarischen Salon, wo sie von Arrigo Boito gehört wurde, der daraufhin die Uraufführung 1884 im Mailänder Teatro Dal Verme organisierte (mit einem gewissen Pietro Mascagni am Kontrabass), die zu einem großen Erfolg wurde und der Jury wütende Meinungsäußerungen einbrachte. Im selben Jahr erweiterte Puccini auf Aufforderung Ricordis seine opera-ballo auf zwei Akte und änderte den Titel in „Le Villi“. Für deren Aufführung an der Scala schrieb der Meister eine wunderbare Tenorarie, die am besprochenen Abend naturgemäß nicht zu hören war. Aber das ist eine andere Geschichte. In dieser ersten Fassung der „Giselle“-artigen Erzählung hören wir schon Puccini, wie wir ihn später lieben werden, vor allem die Tregenda, der Hexenzug.

Edgar / © Andrea Maionchi

Hier war der Hintergrund mit blühenden und später schneebedeckten Bäumen ähnlich wie in „Edgar“, aber das Bestrickende an der 40-minütigen Aufführung war die Choreographie. Gheorghe Iancu hatte für die wie Mumien eingehüllten Ballerinen Schrittkombinationen erfunden, die es der biegsamen Lidia Fridman als Anna erlaubten, im mörderischen Todestanz für den ungetreuen Verlobten mitzutanzen, wodurch eine starke Spannung entstand, nachdem Fridman bereits im Liebesduett mit ihrem Roberto brilliert hatte. Dieser wurde von Vincenzo Costanzo überzeugend gesungen, obwohl die Rolle in dieser ersten Fassung wenig umfangreich ist. Er machte auch szenisch gute Figur, als er sich auf einem Tisch liegend von einem Vamp verführen ließ (eine weitere symphonische Stelle). Hübsch waren wieder die Kostüme der Mädchen mit weißem Rock und schwarzem Oberteil, ebenso wie der Chor unter Ardigò seine professionelle Leistung wiederholte. Als Annas Vater war Giuseppe de Luca zu hören, und ich bin neugierig, wann er draufkommt, dass er Namensvetter eines der bedeutendsten Baritone des 20. Jahrhunderts ist. Massimo Zanetti war der kompetente Leiter des Orchestra del Festival Puccini.

Dass „Edgar“ entgegen der Ankündigung vor „Le Willis“ gespielt wurde, ist meiner Ansicht nach darauf zurückzuführen, dass man das Publikum mit einem leichter zugänglichen und kurzem Werk bei der Stange halten wollte. Immerhin endete der Abend nach 1 Uhr nachts.  

Eva Pleus, 18. Juli 2024


Edgar / Le Willis
Giacomo Puccini

Gran Teatro Giacomo Puccini

Aufführung am 12. Juli 2024 (Premiere)

Inszenierung: Pier Luigi Pizzi
Musikalische Leitung: Massimo Zanetti
Orchestra del Festival Puccini