Die ehemalige Jagdresidenz der Kurfürsten und Könige von Sachsen Schloss Moritzburg bietet seit 1993 den Rahmen des „Moritzburg-Festivals“. Auf der Nord-Terrasse des Schlosses finden im August jeden Jahres die Kammermusik-Konzerte der Veranstaltung statt. Im Jahre 2006 wurde die Unternehmung mit einer „Festival-Akademie“ erweitert. In der mit dem Festival verbundenen Kreativwerkstatt erhalten Musikstudenten Impulse für den Aufbau eines Kammermusikrepertoires oder werden als Orchestermusiker vorbereitet. Diese 36 Instrumentalisten aus 17 Nationen des Jahrgangs 2024 bildeten dann auch das Moritzburg Festival Orchester, als dessen Chefdirigent seit 2019 der Katalane Josep Caballé Domenech wirkte. Mit Aufführungen in Bad Elster, im Kulturpalast Dresden und im Berliner Konzerthaus wurde das Ergebnis der Arbeit der Kreativwerkstatt 2024 unter dem Motto „Moritzburg für alle“ interessierten Musikfreunden vorgestellt.
Zum Beginn des Konzertes im Dresdner Kulturpalast spielte das Moritzburg Festival Orchester eine frische Ouvertüre zu Wolfgang Amadeus Mozarts Cosi fan tutte aus dem Jahre 1790, der dann Anna Clunes Sound an Fury von 2019 folgte. Anregungen für das Konzertstück hatte sich die 1980 in London geborene und mit ihren innovativen und emotionalen Arbeiten erfolgreiche Komponistin in Joseph Haydns (1732-1809) 60. Symphonie geholt. Haydns Symphonie Nr. 60 Il Distratto war ursprünglich eine Ouvertüre und Untermalungen der fünf Akte einer Aufführung der Verwechslungskomödie Der Zerstreute (ital. Il Distratto) des französischen Autors Jean-Francois Regnard (1655-1709) im Jahre 1774 auf Schloss Esterházy gewesen. Wie die außergewöhnlichen sechs „Sätze“ in das Hoboken-Verzeichnis I gelangt sind und damit zur „Symphonie“ erhoben wurden, konnte ich nicht aufklären. Die Musikerin Anna Clyne hatten Haydns abrupte Wechsel zwischen forte und piano, zwischen harmonisch fernen Tonarten und von Dur und Moll sowie von stark gegensätzlichen Motiven besonders angezogen. Auch das Verlöschen des musikalischen Geschehens, das „Vergessen“ der Melodie dem ein unerwarteter Ausbruch im ersten Satz und ein „Verstimmen und Nachstimmen“ mitten im sechsten Satz folgte. Besonders die rhythmischen Irritationen, die Stockungen einschließlich der Art von Wiederholungen von Tönen oder Motiven dürften die Komponistin inspiriert haben. Aber auch Shakespeares rhythmischer Sprachgebrauch im letzten Monolog Macbeths, als Reaktion auf den Tod seiner Frau, bot ihr Anregung mit seinem „morgen und morgen und morgen…“. Als Klanggrundlage des fünften Abschnitts sowie für den mehrdeutbaren Titel: Schall und Rauch, Schall und Wahn oder Klang und Wut. Damit wollte Anna Clyne auch in Zeiten brisanter politischer Spannungen eine Mahnung an die Machthaber der Welt senden. Letztlich findet sich noch ein Zitat aus Bartóks Konzert für Orchester in der Komposition.
Die Streicher des Moritzburg Festival Orchesters eröffneten, farbig und düster in einem raschen Tempo. Die Hörner begannen ein interessantes Thema, was die Streicher zu unerwarteter Temposteigerung veranlasste und von skurriler Holzspieler-Intonation begleitet wurde. Ein Xylophon und mehrere Röhrenglocken unterstützten das Kammerorchester. Mit hoher Energie und Präzision gestalteten die Musiker des Festival Orchesters ihrem Publikum eine Reise mit wild durch das Orchester geschleuderten Streicher-Ausbrüchen, die mit eindringlich-nachdenklichen Melodien wechselten. Faszinierend gelangten die fantasievollen Verkettungen der hellen und dunklen Aspekte der Partitur mit Haydns Humor. Shakespeares mahnender Text wurde eindringlich vom Orchesterassistenten Sean Tan gesprochen. Unter dem Dirigat Josep Caballé Domenechs gelang dem jungen, aber gleichsam geschlossen musizierendem Orchester eine begeisternde Interpretation.
Dem folgten von Richard Strauss sein Konzert für Horn und Orchester Nr.1 Es-Dur op. 11 und die Romanze für Violoncello und Orchester F-Dur. Als Sohn des Komponisten und Ersten Solohornisten der Münchner Hofoper Franz Joseph Strauß (1822-1905) war Richard (1864-1949), der seinen Namen, um der Verwechselung mit den Wienern aus dem Wege zu gehen, ab 1876 als „Strauss“ schrieb, gewissermaßen mit dem Horn verwandt. Unter Einschaltung seiner Orchesterkollegen sorgte der Vater frühzeitig für eine exzellente musikalische Grundausbildung Richards, ließ ihn ansonsten „an der langen Leine laufen“. Der Vater Franz Joseph Strauß hatte mit seinem konservativen Musikgeschmack eine Abneigung gegenüber Richard Wagners Kompositionen. Trotzdem habe er Wagner bei der Komposition des „Siegfried-Rufes“ unterstützt und maßgeblich bei der Entwicklung der Wagner-Tuben geholfen. Die Gestaltung des Concerto für Horn Nr. 1 op. 8 des Franz Joseph Strauß aus dem Jahre 1865 nutzte im Jahre 1872 der Sohn Richard als Vorbild für sein Hornkonzert Nr. 1 op. 11 zunächst in einer Ausführung für Horn und Klavier. Auch Übernahmen vom Thema des dritten Satzes des Vaters stützen diese Vermutung. Im Winter 1882 zu 1883 entstand dann die Version für „Waldhorn mit Orchesterbegleitung“. Als das Stück geschrieben wurde, war auch die Verwendung von Naturhörnern zwar noch üblich, wurde aber bereits bei der Erstaufführung nicht mehr praktiziert. Heute vermittelt uns der Name Richard Strauss das Bild eines reifen Künstlers, der sich mit Routine seinen Themen widmete und die Erfolge regelrecht aus dem Ärmel schüttelte. Wenn die Thematik der drei Sätze des Opus 11 noch keine eigene Handschrift dieser „Strauss’schen Züge“ aufweist, so lassen doch die gespannten Melodienbögen und die aparte Klangbehandlung des begleitenden Instrumentariums seine spätere Meisterschaft ahnen.
Im Konzert hatte der Solo-Hornist der Berliner Philharmoniker Stefan Dohr den Solopart übernommen. Bereits der auf Tönen der Naturreihen aufgebaute signalartige Beginn prägte das Werk als horntypisch und strahlte auf die ineinander übergehenden drei Sätze aus. Nach dieser jugendlich anmutenden Einleitung präsentierte Stefan Dohr ein sangliches und weit ausschwingendes Thema. Der Solist konnte im Kopfsatz seine Virtuosität ausleben, da satztechnische Raffinessen und thematische Arbeiten hinter dem freien Verlauf zurück traten. Nach einem fließenden Übergang wurde im Andante eine zarte, den Tonumfang voll auskostende Horn-Kantilene von der glänzenden Soloklarinette und dem ausgezeichneten Fagott der aus Israel stammenden Musikerin Talya Morad eingefasst. Im Andante-Mittelteil wurde dem weichen Hornthema von markanten Begleitfiguren der Orchesterinstrumentalisten widersprochen. Das Finale Rondo-Allegro nahm das markante Eröffnungsmotiv wieder auf. Kraftvoll, aber zugleich kultiviert kontrastierten frische Staccato des Horn-Solisten mit zarten lyrischen Phrasen des Orchesters. Ein kurzer Moment des Innehaltens wurde zum Anlauf für die atemberaubende Schlusskür des Solos von Stefan Dohr.
Der ebenfalls zum Jugendschaffen des Richard Strauss gehörenden Romanze für Violoncello und Orchester F-Dur aus dem Jahre 1883 war keine Opus-Einstufung zugestanden worden. Lediglich als TrV 118 schaffte es das kleine Juwel in das Werkverzeichnis der Strauss-Kompositionen des Franz Trenner (1915-1992). Das stilistisch den großen romantischen Cellowerken von Robert Schumann und Johannes Brahms nahestehende „Andante cantabile“ wurde vom Festival Orchester gemeinsam mit Jan Vogler dargeboten. Das traumverloren und melodienselig anmutende Werk ließ mit seiner Einleitung, der Kombination von doppeltbesetzten Holzbläsern und Hörnern die Vermutung aufkommen, dass Strauss eine Hommage an Richard Wagners Lohengrin senden wollte. Mit der ausgeprägten Orchesterbegleitung gilt die Romanze als eines der reifsten Jugendwerke des Richard Strauss. Lange verschollen, war es 1982 wieder entdeckt worden und wird seit dem häufig aufgeführt. Sowohl Jan Vogler, als auch die Orchestermusiker und Josep Caballé Domenech hatten sichtlich Freude an der Interpretation des kurzen Stückes.
Die Brücke von den massiven Richard-Strauss-Kompositionen zu Mozarts Haffner-Symphonie war dem US-amerikanischen Komponisten Jonathan Leshnoff mit seiner Miniatur Score übertragen worden. Das in Germantown, Tennessee, angesiedelte IRIS-Orchestra hatte anlässlich seines 20-jährigen Bestehens im Jahre 2020 Leshnoff mit einer Jubiläumskomposition beauftragt. Wegen der Mehrdeutigkeit des Score-Begriffs sollte dieser Titel sowohl die vom Orchester gespielten Partituren als auch das Gründungsjahr 2000 sowie die zwanzig Jahre der Existenz des Klangkörpers versinnbildlichen.
Das Konzertstück „Score“ verband klassische Elemente mit den individuellen Techniken Leshnoffs. Harmonische Strukturen waren mit eingängigen Strukturen verknüpft. Zunächst gaben am Beginn die Holzbläser Motive von Instrument zu Instrument bis die Streicher eine fröhliche Melodie im neoklassizistischen Stil aufnahmen. Beide Systeme scheinen miteinander zu konkurrieren bis sie sich mit emotionaler Tiefe raffiniert verschmolzen.
Den Abschluss des Konzertes bildete Wolfgang Amadeus Mozarts Symphonie Nr. 35 D-Dur KV 385, die Haffner-Symphonie. Sigmund Haffner der Jüngere (1756-1787), frühverwaister Abkömmling des gleichnamigen Salzburger Handelshauses, lebte als Humanist, Privatier und Sozial-Mäzen sowie Dauer-Junggeselle. Am 29. Juli 1782 wurde Haffner für sein Engagement und möglicherweise in Würdigung der Verdienste seines Vaters in den Reichsadelsstand erhoben. Mozart hatte bereits im Jahre 1776 für den Polterabend der Hochzeit von Haffners Schwester Theresia (1740-1798) die achtsätzige Haffner-Serenade KV 250 als Begleitmusik beigesteuert. Ein angeblich Unbekannter, mutmaßlich aber Sigmund Haffner daselbst, hatte, offenbar in letzter Minute“, Wolfgangs Vater Leopold Mozart (1719-1787) um die Vermittlung gebeten, dass Wolfgang Amadeus für die Zeremonie eine weitere Sonate komponieren möge. Die unter extremen Zeitdruck entstandene und wahrscheinlich auch aufgeführte, aus sechs Sätzen bestehende Serenade hat Mozart dann am Beginn des Jahres 1783 zur Haffner-Symphonie umgestaltet. Er kürzte die „Unterhaltungsmusik“ um den Eingangsmarsch, strich ein Menuett und fügte dem Instrumentarium der Ecksätze Flöten und Klarinetten hinzu. Das Gestrichene wurde vermutlich nach dem Tode Mozarts in Drei Märsche KV 408 und das Menuett in Symphonie Minuett KV 409 eingeordnet.
Auch wenn zum Beginn des Allegro con spirito eine gewisse Nervosität im Zusammenspiel des Orchesters kaum zu überhören war, gelang Domenech, die Musiker nahezu unmittelbar für eine lebhafte und präzise Durchführung des expressiven Themas zusammen zufassen. Großartig blieben die am Beginn ineinander verhakten Stimmführungen auf Linie, so dass die Dramatik mit der Leichtigkeit des Kopfsatzes in beeindruckender Ausgewogenheit gesichert war. Damit blieb den Feinheiten und dem Witz, die in der Komposition mitschwingen, genügend Platz eingeräumt.
Der ruhige und lyrische zweite Satz gab den jungen Musikern Gelegenheit, ihre Ausdrucksfähigkeit zu gestalten. Die Holzbläser, besonders die Klarinetten und Oboen glänzten mit ihren sanften, melodischen Themen, während die Streicher dezent eine warme Atmosphäre sicherten. Josep Caballé Domenech sorgte für ein gemächliches Tempo und legte besonderen Wert auf eine akkurate Phrasierung.
Die beiden letzten Sätze wurden von Domenech besonders beschwingt ausgelegt. Den traditionellen Tanzsatz spielte das Orchester mit einer Mischung von Festlichkeit, Anmut und Energie.
Besonders lebendig und geistreich war der Finalsatz mit seinen Anklängen an die Arie des Osmin „Ha, wie will ich triumphieren“ ausgebildet. Die schnell wechselnden Themen und die dynamischen Abstufungen wurden von den Musikern unter Domenechs Dirigat so zu einem temperamentvollen Abschluss des Konzertes gestaltet.
Thomas Thielemann, 18. August 2024
Wolfgang Amadeus Mozart: Ouvertüre zur Oper Cosi fan tutte
Anna Clyne: Sound and Fury
Richard Strauss: Konzert für Horn und Orchester Nr.1 Es-Dur op. 11
Richard Strauss: Romanze für Violoncello und Orchester F-Dur
Jonathan Leshnoff: Score
Wolfgang Amadeus Mozart: Symphonie Nr. 35 D-Dur KV 385, „Haffner“
Konzertsaal im Kulturpalast Dresden
17. August 2024
Stefan Dohr, Horn
Jan Vogler, Violoncello
Dirigent: Josep Caballé Domenech
Moritzburg Festival Orchester