Haugtussa – Edward Grieg
Es sind nicht selten die leisen, unspektakulären Kreationen der Ruhrtriennale, die die nachhaltigsten und intensivsten Eindrücke hinterlassen. Das trifft auch auf „Haugtussa“ zu, ein Musiktheater-Projekt des Norwegischen Nationaltheaters, dessen Uraufführung in der Bochumer Jahrhunderthalle auf große Zustimmung des Publikums stieß.
„Haugtussa“ ist ein Versepos des norwegischen Dichters Arne Garborg aus dem Jahre 1885, bestehend aus über 70 Gedichten, von denen Edvard Grieg acht vertont hat. Das Mädchen Veslemøy fristet in der Dorfgemeinschaft aufgrund seiner unheimlichen visionären Fantasie ein Dasein als Außenseiterin und wird abwertend als „Haugtussa“ (Trollmädchen) beschimpft. Mit ungebrochener Energie versucht Veslemøy die Widerstände zu überwinden und verliebt sich in den attraktiven Luftikus Jon, der sie schmählich sitzen lässt. Einer Heirat mit dem hässlichen Trollkönig widersetzt sie sich und bleibt resigniert zurück.
Gezeigt wird die Lebens- und Leidensgeschichte eines Mädchens, das nicht den tradierten Erwartungen der Dorfgemeinschaft entspricht und daran zerbricht. Das bringen sowohl die Gedichte von Garborg als auch die dezenten Vertonungen Griegs eindringlich zum Ausdruck. Ohne folkloristischen Plüsch wird dennoch die Atmosphäre der weiten und oft dunklen Landschaft Norwegens pointiert eingefangen, wozu auch das spezifische Kolorit der nordischen Landessprache beiträgt, verknüpft mit unaufdringlichen elektronischen Klanglandschaften von Thijs van Vuure.
Mit der gleichen Sensibilität inszeniert auch Eline Arbo die 100-minütige Performance. Auf der leeren, meist dunklen, raffiniert und stimmungsvoll ausgeleuchteten Bühne konzentriert sich der Blick auf die acht Darsteller des Norwegischen Nationaltheaters, die sich gleichermaßen als Schauspieler, Sänger und Tänzer bewähren. Darstellerisch angeführt von Kjersti Tveterås in der Titelrolle, die die Entwicklung des fantasiebegabten Mädchens zur resignierten Frau fassettenreich und glaubhaft vollzieht. Ergänzt durch Christian Ruud Kallum in der Partie des smarten Liebhabers Jon.
Die Lieder Griegs, die Thijs van Vuure durch weitere Nummern ergänzte, erhalten durch den ebenso kraftvollen wie androgynen Mezzosopran des nach eigenem Bekenntnis „non-binären“ Sängers Adrian Angelico eine unverwechselbar persönliche Farbe.
Mit dem Außenseiter-Thema des Stücks, geadelt durch die Verpflichtung des faszinierenden norwegischen Sängers, versetzt Intendant Ivo Van Hove zum Abschluss seiner ersten Spielzeit einem seiner wichtigsten programmatischen Schwerpunkte, der Einbeziehung „queerer“ Themen, einen nachhaltigen Akzent.
Rechants – Chorwerk Ruhr
Die Intendanten wechseln regelmäßig, die programmatischen Schwerpunkte mögen sich so stark wie möglich verändern: Die Beiträge des „Chorwerks Ruhr“ gehören jedoch zu den qualitativ unverrückbaren Konstanten der Ruhrtriennale. Dessen Auftritte in der Bochumer Jahrhunderthalle oder anderen Spielorten der stillgelegten Industriekulissen des Reviers erfreuen sich ungebrochener Beliebtheit und sind aus dem Festival nicht wegzudenken. Ungeachtet spektakulärer Auftritte von Stars wie Sandra Hüller oder Isabelle Huppert.
Durch die überragende Leitung von Florian Helgath hat sich das Niveau des rund 20-köpfigen Ensembles in den letzten Jahren noch stetig steigern können, so dass es auch anspruchsvollste a-cappella-Werke in höchster Perfektion stemmen kann. Und daran mangelte es auch dem diesjährigen, „Rechants“ betitelten Programm mit drei Kompositionen unterschiedlicher Machart, Herkunft und Entstehungszeiten nicht. Olivier Messiaens „Cinq rechants pour douze voix mixtes“ (Fünf Rechants für zwölf gemischte Stimmen) aus den Jahren 1946/47 und die vitale „Partita“ der Amerikanerin Caroline Shaw aus jüngsten Jahren umrahmten eine Motette des italienischen Renaissance-Meisters Vicente Lusitano.
Messiaens fünf „Rechants“, zugleich der Titel des Abends, wobei der Begriff mit „Wiederholt-Singen“ nur ungenau zu übersetzen ist, fordert dem Chor eine maximale Wandlungsfähigkeit in Sachen feinster Klangnuancierungen und -schattierungen ab. Genau das bewältigt das Chorwerk ebenso souverän wie die rhythmischen Finessen und intonatorischen Herausforderungen der Gesänge.
Auf pastose, relativ homogene Klangflächen ist dagegen die 400 Jahre ältere Motette „Inviolata, integra et casta es“ von Vicente Lusitano ausgerichtet. Eine kontemplative, auf Kontraste verzichtende Komposition, die durch die präzise Artikulation und Phrasierung des Chors unter Spannung gehalten wird.
Virtuos und entspannend frisch geht es in den vier Sätzen der „Partita“ von Caroline Shaw zu. Eigentlich für acht Solo-Stimmen gesetzt, was angesichts der schwierigen Partien auch sinnvoll sein mag, besetzt das Chorwerk die Stimmen mehrfach, was einen zusätzlichen Gewinn an klanglichen und dynamischen Fassetten mit sich bringt.
Mit Erlaubnis der 1982 geborenen Komponistin ersetzte Florian Helgath ein integriertes amerikanisches Volkslied durch die Ruhrpott-Hymne „Glück auf, der Steiger kommt.“ In zartestem Pianissimo klang der Revier-Hit wie pures Gold.
Pedro Obiera, 16. September 2024
RUHRTRIENNALE 2024
Haugtussa
Edvard Grieg
Rechants
Bochum, Jahrhunderthalle
Premiere 13. September 2024
Chorwerk Ruhr