Paris: „Le Domino Noir“, Daniel-François-Esprit Auber

Funkelnder Anfang der neuen Spielzeit in Paris: eine Komödie, so spritzig wie die „Fledermaus“, perfekt szenisch, musikalisch, sängerisch und tänzerisch umgesetzt.

Schon beim Betreten des Hauses spürt man den neuen Wind in der Opéra Comique: das Empfangspersonal mit Nonnenhäubchen – weil „Le domino noir“ als allererste Oper überhaupt in einem Kloster spielt.
© Arthur Riga

Ein neuer Spielzeit-Anfang in Paris und es gibt sehr viel zu berichten! Die jetzige Spielzeit fing in derselben Woche gleichzeitig an den drei Pariser Opernhäusern an. Wir beginnen mit dem meist besonderen Werk an der Opéra Comique, auch weil dort nun eine wirklich einzigartige Atmosphäre herrscht. Seit seinem schwierigen Start im November 2021 (wir haben im Januar 2022 darüber berichtet), hat der Direktor Louis Langrée wieder so etwas wie ein eigenes Ensemble und eine Akademie für junge Sänger gegründet, mit denen er um jede Produktion eine ganze Serie von „Sternschnuppen“ („Pléiades“) organisiert, die jetzt die halbe Saisonbroschüre füllen. Zu den vierzig (meist kostenlosen) Konzerten gehört ein innovatives Projekt mit dem Musée d’Orsay, wo die Sänger zu einem spezifischen Thema – ich war bei „L’amour à la française“ (Liebe auf Französisch) – im Museum vor den Kunstwerken singen. Das war akustisch nicht unproblematisch, aber als Initiative natürlich toll, weil so neues Publikum erreicht wird. Dieses kommt dann z. B. auch zu den vielen Symposien, an denen nun auch musiziert wird, und wo ich nun ganz andere Gesichter sehe als (früher nur) Wissenschaftler. Vor jeder Vorstellung gibt es eine Einführung von der Hausdramaturgin Agnès Terrier (wofür das Publikum schon vor dem Öffnen der Türen Schlange steht) und nach quasi jeder Vorstellung einen entspannten Drink im schönen Foyer, wozu die jungen Musiker andere Werke des geraden gespielten Komponisten singen. Nach der rezensierten Vorstellung gab es auch ein Publikumsgespräch im Saal, mit dem Direktor & Dirigenten und dem Team, wo man ganz entspannt Fragen stellen konnte: über den Komponisten, was eine Aufführung kostet, andere Werke die man gerne hören würde etc. Solch eine Atmosphäre vor und hinter der Bühne gibt es in keinem anderen Opernhaus in Paris und meines Wissens auch nicht in Frankreich. Schon gleich beim Eintreten ist man gut gelaunt, denn bei „Fantasio“ trug das ganze Personal im Eingangsbereich (auch z.B. in der Garderobe) dreispitzige Narrenkappen. Jetzt waren es weiße Nonnenhäubchen, weil „Le domino noir“ in einem Kloster spielt…

Schon beim Betreten des Hauses spürt man den neuen Wind in der Opéra Comique: das Empfangspersonal mit Nonnenhäubchen – weil „Le domino noir“ als allererste Oper überhaupt in einem Kloster spielt.
© Arthur Riga

Der Komponist Daniel-François-Esprit Auber (1782-1871) ist heute so gut wie vergessen. In Paris kennt man seinen Namen nur noch, weil die S-Bahnhalte (RER) an der Opéra Garnier nach ihm benannt ist und in Belgien, weil die 1830-Revolution, die zum Entstehen des Landes führte, im Saal der Oper ausbrach, bei der Arie „Mieux vaut mourir que rester misérable“ seiner romantischen Oper „La muette de Portici“ – wohl das einzige Mal in der Weltgeschichte, dass ein neuer Staat in einem Opernhaus gegründet wurde. „La muette de Portici“ gilt als erste „grand opéra“ noch vor Meyerbeer und war übrigens Richard Wagners französische Lieblingsoper. Daneben kennt man nur noch Aubers „Fra Diavolo“ (1830) auf einigen deutschen Bühnen – andere Werke werden in meinen Opernführern gar nicht mal erwähnt (!). Dabei war Auber der meist erfolgreiche Komponist in Paris 1830-1850, zumindest der bestbezahlte (nach Rossini vor ihm) und der meist mit Ehren überhäufte. „Le domino noir“ (1837) war seine 22. Oper auf ein Libretto von Eugène Scribe (sein Alter Ego als Erfolgslibrettist), mit dem er 39 Bühnenwerke schreiben würde, hauptsächlich komische Opern (mit gesprochenen Dialogen). „Der schwarze Verhüllungsmantel“, an der Opéra Comique uraufgeführt, war ein „Bombenerfolg“, wurde quasi jedes Jahr bis 1911 an Weihnachten & Sylvester gespielt und gehört mit inzwischen 1200 Vorstellungen noch zu den zehn meistgespielten Werken des Hauses. Es wurde in 14 Sprachen übersetzt und auch in Wien durch den nicht gerade frankophilen Eduard Hanslick in Die moderne Oper positiv rezensiert.

Le domino noir“ hat viele Parallelen zur „Fledermaus“, ursprünglich eine französische Komödie Le Réveillon, also ein Fest an Heiligabend, an dem es auch etwas unchristlich zugehen kann. Die ganze Handlung spielt in der Weihnachtsnacht, aber nicht irgendwo. Die bis zur Schlussszene nicht identifizierbare, geheimnisvolle Hauptfigur trägt einen domino noir, ursprünglich ein Nonnenmantel (vom lateinischen dominus), der 1831 in Paris in die Mode kam, als der neue Direktor der Oper, der geniale Verleger und Unternehmer Louis Véron, auf die Idee kam dort prächtige Maskenbälle zu organisieren – die ein ähnliches Renommee hatten wie der heutige Wiener Opernball. Nur dass sie quasi wöchentlich stattfanden und zur ersten Einkunftsquelle des Hauses avancierten, was damals so schwer verschuldet war, dass der Staat es an einen Privatier abgegeben hatte. Die vergnügungssüchtige haute volée von Paris konnte also vermummt mit einem solchen Kapuzenmantel in die Oper gehen, diesen dort theatralisch auf der Freitreppe abwerfen und incognito auch nicht ganz standesgemäße neue Kontakte knüpfen. Der Titel des Werks war also schon vielversprechend und die Handlung für damalige Begriffe très piquant. Denn es war die erste Oper in Paris, die in der damaligen Gegenwart spielte, die erste Oper mit einer Handlung in einem Kloster und die erste in Spanien – der Trick, mit dem Scribe die Zensur zu umgehen wusste. Denn es war strikt verboten Aktuelles auf die Bühne zu bringen, regierende Herrscher zu zeigen, die Kirche zu verleumden etc. Doch Spanien war damals noch so exotisch weit weg (wie Afrika), dass dort alles möglich sein konnte – auch wenn die erwähnte Königin eine Nichte des regierenden König Louis-Philippe war. Für das Publikum spielte die Handlung also direkt vor der Tür – denn der Opernball fand damals kaum hundert Meter von der Opéra Comique an der anderen Seite des Boulevards des Italiens statt.

Wir folgen der vermummten Nichte der spanischen Königin, die für eine Nacht ihr Kloster verlässt, wo sie am nächsten Tag im Beisein des ganzen Hofes als Äbtissin eingesetzt werden soll. Doch auf dem Maskenball begegnet ihr wieder ein junger Mann, der sie so leidenschaftlich umwirbt, dass sie ihre Kutsche um Mitternacht verpasst und nicht mehr heimlich ins Kloster zurückkann. Es folgt eine Nacht voller Peripetien, in der sich Angèle immer wieder verkleiden muss um nicht erkannt zu werden – sogar als Küchenhilfe, die der Ballgesellschaft einen boléro und eine cachucha vortanzt (damals hits auf den Opernbällen). Eine Nacht, nach der sie nicht mehr Äbtissin werden will und aus Liebe den jungen Horace heiratet, der wegen ihr seine anstehende Verlobung aufgelöst hat. Köstliche Komik, herrliche Dialoge und charmante, leichtfüßige Musik, die auch der strenge Berlioz lobte als „léger, brillant, gai, souvent plein de saillies piquantes et de coquettes intentions.

Schlägt die Uhr schon Mitternacht? Horace de Massarena (Cyrille Dubois), Angèle de Olivarès (Anne-Catherine Gillet) und der spielfreudige Chor Les éléments
© Stefan Brion

All diese Leichtigkeit und Komik wird nun wunderbar umgesetzt durch die Regisseure Valérie Lesort und Christian Hecq. Besonders hat uns gefallen, dass der ganze Bühnenzauber mit „handgemachten“ Bühnenmitteln entstand, ohne die heute so überpräsente Technik (Film, Video etc): ein einfaches, effizientes Bühnenbild von Laurent Peduzzi, mit urkomischen Marionetten von Carole Allemand und fantasievollen Kostümen von Vanessa Sannino, die jedoch die sehr präsente und auch sehr gekonnte Choreografie von Glysleïn Lefever nicht behinderten. Alle Mitwirkenden waren nicht nur Sänger, sondern auch Schauspieler und Tänzer. Das war 1837 Gang und gäbe, so wie es uns der Direktor und Dirigent Louis Langrée nach der Vorstellung erklärte, weil damals alle drei Kunstgattungen zusammen am Pariser Konservatorium obligat gelehrt wurden – jetzt sind es drei verschiedene Konservatorien. Deswegen zuerst einmal Komplimente, dass die Sänger so gut spielten und dass die als Schauspieler angegebene Mitwirkenden auch noch perfekt gesungen haben. Anne-Catherine Gillet war das Zentrum der Geschichte als Angèle de Olivarès, eine Rolle, die ursprünglich für den damaligen Star Laure Cinti-Damoreau geschrieben wurde, die die Pariser Oper verlassen hatte für die Opéra Comique, wo sie sich maßgeschneiderte Rollen wünschte, in denen sie alle ihre Talente ausspielen konnte. Cyrille Dubois konnte Angèle nun in stets neuer Vermummung das Wasser reichen als träumerisch weltfremder Horace de Massarena, eine Parodie der 1830-Romantiker Victor Hugo und Théophile Gautier. Als zweites Paar perfekt Léo Vermot-Desroches als der adelige Dandy Comte Juliano und Victoire Bunel als die lebensfrohe Nonne Brigitte de San Lucar. Sehr eindrucksvoll auch das „niedere Paar“: Marie Lenormand als spanische Küchenmagd Jacinthe (jetzt eine köstliche Parodie von Montserrat Caballé) und Jean-Fernand Setti, mit seinem eindrucksvollen Bass etwas unterbesetzt als Pförtner Gil Perez – wir erinnern uns an seinen fantastischen Escamillo in „Carmen“. Der Komiker des Abends war der Schauspieler Laurent Montel als cholerischer und ein abscheuliches Französisch sprechender Lord Elfort. Dazu noch andere Schauspieler und Tänzer – wir können sie nicht alle nennen. Louis Langrée zeigte sich am Dirigentenpult wieder als großer Kenner und vor allem Liebhaber dieses Repertoires – sein Dirigat grenzte schon an die Perfektion. Denn das Orchestre de chambre de Paris und der Chor Les éléments, seit drei Jahren nun quasi das Hausensemble der Opéra Comique, folgten jeder Nuance, auch bei manchmal atemberaubenden Tempi – und dies immer mit einer offensichtlichen Begeisterung und guter Laune, die alles überstrahlte.

Irgendwie gerät in dieser Weihnachtsnacht alles schief: Comte Juliano (Léo Vermot-Desroches, der auch noch in dieser Position ein hohes G singt) und der Chor Les éléments.
© Stefan Brion

Die Spielzeit an der Opéra Comique geht nun weiter in der jetzt üblichen Bandbreite von Barock-Opern bis zu gegenwärtigen Werken, die z.T. extra für die neuen Musiker in Auftrag gegeben werden, wie z.B. für die Maîtrise Populaire, ein Chor von Jugendlichen aus den minderbegüterten Vorstädten. Ende Oktober die neue Oper von George Benjamin „Picture a day like this“ (im Sommer 2023 in Aix-en-Provence uraufgeführt), im Dezember „Les fêtes d’Hébé“ von Rameau, im Februar „Médée“ von Cherubini, im März der noch weniger bekannte, damals verbotene „Samson“ von Rameau (letzten Sommer in Aix uraufgeführt), im April „Les Sentinelles“, ein neues Werk von Clara Olivarès, im Mai die quasi nie gespielten Ballette „Semiramis“ und „Don Juan“ von Gluck (die damals in Wien seine Opernreform einleiteten), und zum Abschluss der „Faust“ von Gounod (in einer nie gespielten Urfassung, die jetzt durch das Palazzetto Bru Zane erstellt wurde). Und auch mit einem solch besonderen und anspruchsvollen Programm ist das Haus jeden Abend voll!

Zwei Tage vor dieser rezensierten Aufführung eröffnete das Théâtre des Champs-Elysées seine Spielzeit, die letzte des Direktors Michel Franck, der vor 15 Jahren die Nachfolge von Dominique Meyer antrat und sich wirklich bewundernswert durch die schwierigen Pandemie-Jahre geschlagen hat. Aus finanziellen Gründen besteht das Programm hauptsächlich aus 22 konzertanten Opernaufführungen, anfangend mit „Cosi fan tutte“, wunderschön mit Marc Minkowski & Les Musiciens du Louvre und Ana Maria Labin als Fiordiligi, die im Januar als Figaro-Gräfin zurückkehrt. Es gibt nur vier szenische Opern: „Dialogue des Carmélites“ von Poulenc im Dezember (in der eindrucksvollen Inszenierung von Olivier Py), „Semele“ von Händel im Februar, „Werther“ von Massenet im März und zum Abschluss „Der Rosenkavalier“ im Mai, womit Franck symbolisch die Schlüssel des Theaters seinem Mitarbeiter Baptiste Charroing übergeben wird. Wir werden also erst später darüber berichten. Und auch in der gleichen Woche begann die neue Spielzeit der Opéra de Paris mit Offenbachs „Les Brigands“, in einer anscheinend sehr farbenfrohen Inszenierung von Barrie Kosky, die wir uns bald ansehen wollen. Denn es gibt viel zu berichten!

Waldemar Kamer, 29. September 2024


Le Domino Noir
Daniel-François-Esprit Auber

Opéra Comique Paris

26. September 2024

Regie: Valérie Lesort / Christian Hecq
Dirigent: Louis Langrée
Orchestre de chambre de Paris