Berlin: „Nabucco“, Giuseppe Verdi

Jahrzehntelang übte sich die Lindenoper in Nabucco-Abstinenz, ließ der Deutschen Oper den Vortritt mit deren Neuenfels-Produktion, aus welcher der Hornissen-Abdallo (oder war es der Priester des Baal?) mit ausfahrbarem Stachel ebenso in Erinnerung bleibt wie aus dem danach folgendem, immer noch auf dem Spielplan befindlichen Nabucco die riesige Druckmaschine, die Zeugnis ablegt für das Volk der Juden als eines dem Geiste verhaftetem. Eher als weit zurückliegende Geschichte empfand der Zuschauer diese Produktionen, während sie nun höchste Aktualität zu besitzen scheint, wenn sogar hier und jetzt in Berlin mit Parolen wie „From-the-River -to-the-Sea“ dem Volk Israels ein Recht auf Heimat abgesprochen, über 2600 Jahre nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem auf Berliner Straßen der Angriff auf die Stadt mit Raketen gefeiert wird. Damit nicht genug, denn auch mit dem Auftritt von Anna Netrebko sieht man sich in, wenn in diesem Fall auch überflüssige, Kontroversen in Form von angedrohten Protestdemos verstrickt. Ein höchst brisantes Thema also, welches dem Regieteam wohl auch bewusst war, denn ein ursprünglich für den Schluss der Oper geplantes fröhliches Versöhnungsfest auf der Bühne fand nun doch nicht statt.

© Bernd Uhlig

Gemeinsam mit ihrer Bühnenbildnerin Carmine Maringola hat Regisseurin Emma Dante für ein höchst üppiges Bühnenbild gesorgt. Die hängenden Gärten ordnet Regisseurin nicht der Semiramis, sondern Nabucco mit einigem, durch antike Quellen beglaubigtem Recht zu. Außerdem soll sie sich von dem seit 2019 in New York befindlichen The Vessel haben inspirieren lassen und von der Wabenbaukunst der Bienen. Prachtvolle Blumengestecke schmücken das Gerüst bei den Assyrern, nüchterner sieht alles bei den Hebräern aus. Auch die Kostüme von Vanessa Sannino lassen eine überbordende Phantasie vermuten, wenn Nabucco ein goldenes Halbröckchen trägt, die Assyrer ganz in Weiß nach Matrosenart gewandet und alle mit einer Unzahl von Pistolen, die gern, aber ohne Tonerzeugung, abgeballert werden, bewaffnet sind. Abigaille muss häufig das Kostüm wechseln und sieht natürlich immer hinreißend aus. In jeden Fall ist die Szene, was Pracht und Farbigkeit angeht, kaum zu überbieten.

In der Arena di Verona kommt man um ein Bis für „Va pensiero“ fast nie herum und verliert damit die letzte Möglichkeit, nach der Vorstellung noch ein Verkehrsmittel zu ergattern, um nach Hause zu kommen. In Berlin hat dieser Chor nicht den Wert einer heimlichen Nationalhymne wie für die Italiener, trotzdem ist er auch in der Lindenoper rein musikalisch einer der Höhepunkte des Abends, ohne dass sich am Schluss auch nur eine Hand rührte. Das mag daran liegen, dass während des Absingens eine zu Träne rührende Szene mit einem sterbenden Kind, einem verwaisten Teddy und einer trauernden Mutter gespielt wird. Da hat die Regie die Kraft der Musik allein unterschätzt und sie so zumindest eines Teils ihrer Wirkung beraubt. Beinahe die Grenze zur Lächerlichkeit überschreitet der Einfall, den Gott der Juden als Plastikhülle den blasphemierenden und später den reuigen Nabucco umkreisen zu lassen. Die Optik ist immer dann gut und stimmig und die Wirkung der Musik verstärkend, wenn sie dieser nicht misstraut. Auch davon gibt es viele Beispiele, so dass man insgesamt mit der Arbeit des Regieteams zufrieden sein kann.

© Bernd Uhlig

Giuseppina Strepponi gewann seinerzeit mit der Partie der Abigaille einen Lebensgefährten und schließlich sogar Gatten und verlor mit ihr den Schmelz ihrer Stimme. Anna Netrebko braucht die anspruchsvolle Rolle nicht zu fürchten. In ihrer ersten szenischen Darstellung der Tochter einer Sklavin mit Ambitionen ist sie optisch noch so reizvoll wie als Manon bei ihrem ersten Auftritt an der Lindenoper. Nun meistert sie irrsinnige Intervallsprünge, höchste Höhen und tiefste Tiefen, kann scharf, aber nie schrill, dazu noch hochpräsent auch in der mezza voce sein. Eine grandiose Leistung mit nur kleinen Abstrichen, weil Vorsicht nicht ihre Sache zu sein scheint. Ab dem 18. Oktober singt Anastasia Bartoli, Tochter nicht von Cecilia Bartoli, sondern von Gasdia, und dürfte eine interessante, wenn auch bei einer so jungen Stimme nicht ungefährdete Alternative sein. In der zweiten Premiere der Deutschen Oper ist sie danach Lady Macbeth.

Ursprünglich als Zaccaria vorgesehen war für sämtliche Vorstellungen René Pape, der wohl sehr kurzfristig abgesagt hat, denn auf den Fotos von der Klavierhauptprobe ist er noch zu sehen, und es konnten auch nicht sofort alle Termine wieder besetzt werden. Nun singt der aus Ring und Rusalka im Haus bereits bestens bekannte Mika Kares den Zaccaria mit einer Riesenröhre von Bassstimme, die in allen Lagen gleich machtvoll orgelnd und dunkel dräuend klingt. Seine Schwester Anna ist, aus dem Opernstudio des Hauses stammend, Sonja Herranen mit warmem Alt, von Anfang an zuverlässig stützend und sich in der kurzen Solopassage profilierend. Auch Andrés Moreno Garcia ist mit frischem Tenor ein guter Abdallo. Auch Manuel Winckhier ist als Priester des Baal eine gute Wahl. Ensemblemitglied Marina Prudenskaja macht das Gebet der Fenena mit einem Mezzosopran, der ein Wunder an Geschmeidigkeit und Wärme ist, zu einem der Höhepunkte des Abends. Immer froh ist man über Italiener in einer italienischen Oper und kann in dieser Produktion mit Luca Salsi in der Titelpartie und Ivan Magri als Ismaele gleich zwei der selten gewordenen Spezies bewundern, den Tenor mit atemberaubendem Squillo viel aus der eigentlich undankbaren Partie machend, den Bariton mit perfekter Diktion, generöser Phrasierung, reicher Agogik und hingebungsvoller Darstellung, dazu reichen Stimmfarben sich als einen echten Verdisänger klassifizierend.

© Bernd Uhlig

Bereits in der Sinfonia hatte Bertrand de Billy alle Extreme auskostend vermieden, dass ein Umtata-Verdi aus dem Orchestergraben tönte. Auch als Sängerbegleiter erwies er sich als ideal und dazu als Garant für einen schönen Einstieg der Lindenoper in die neue Spielzeit. Der Chor und Dani Juris als Chorleiter müssen sich nicht über den ausbleibenden Applaus nach „Va pensiero“ grämen- siehe oben!

Zum ersten Mal nach vielen Jahren können sich Chor und Orchester eines arbeitslosen Feiertags am 3. Oktober erfreuen, an dem sonst immer die erste Premiere der neuen Spielzeit stattfand. Noch im vergangenen Jahr hatten sie Dienst bei der völlig verkorksten Aida in der Regie von Calixto Bieito leisten müssen. Der Kontrast zum vor allem der bellezza verpflichteten Nabucco könnte größer nicht sein, so dass man fast von einer Wiedergutmachung an Giuseppe Verdi sprechen kann.

Ingrid Wanja, 2. Oktober 2024


Nabucco
Giuseppe Verdi

Staatsoper Berlin

Besuchte Premiere am 2. Oktober 2024

Regie: Emma Dante
Musikalische Leitung: Bertrand de Billy
Staatskapelle Berlin