Dresden, Konzert: „Fagerlund, Tschaikowski, Lutosławski“, Dresdner Philharmonie unter Dima Slobodaniouk

Eine gut überlegte Programmfolge – die Interpretation großartig!
Die Kompositionen von Sebastian Fagerlund, hierzulande noch weitgehend unbekannt, das b-Moll Klavierkonzert Tschaikowskis, überraschend in der frühen Fassung von 1879, die 3. Sinfonie von Witold Lutosławski, heute leider nur selten auf den Programmzetteln – diese Zusammenstellung wird zu einem Glücksfall.
Mit Drifts, einem Werk des finnischen Komponisten Sebastian Fagerlund (geb. 1972), wird das Konzert eröffnet. Drifts ist eine der wunderbarsten Kompositionen Fagerlunds, über die er selbst sagt: „Bei Drifts, einer Studie über langsame Musik, hatte ich Schneemuster und Sandformen im Kopf“. Das Stück beginnt unheimlich, drohend, steigert sich dann, gewinnt an Intensität. Es wird eine anschwellende, gewaltige Klanglandschaft aufgebaut, in die kraftvolle rhythmische Schläge hineinfahren, mehrmals unterbrochen von eleganten Bläserfiguren und Trompetensignalen bis hin zu sich langsam entfaltenden melodischen Linien und mitreißenden, harmonischen Wirbeln. Fagerlund nutzt alle Möglichkeiten des reich besetzten Orchesters. Das Werk endet in zartestem Pianissimo, wie ein Windhauch. Die Musik ist unverkennbar nordisch, eingebunden in die Tradition eines Jean Sibelius. Sie hat eine ungeheure visuelle Kraft, die den Hörer direkt packt und ihn emotional mitreißt.
Sebastian Fagerlund studiert zunächst Violine in Turku und erwirbt 2004 das Diplom als Komponist an der Sibelius-Akademie in Helsinki. Sein Schaffen umfasst heute ein breites Spektrum. Neben großen Orchesterwerken und Konzerten für Soloinstrumente schreibt er Vokalwerke, Kammermusik und Opern. Fagerlunds Musik ist meist tonal. Seine großartige Kompositions- und Instrumentationskunst lassen die Musik dabei stets modern klingen. Seine Musik zeichnen kraftvolle rhythmische Impulse, eine stets nach vorn gerichtete Bewegung und oft breite, pulsierende Klangteppiche aus. Mehrere Orchester und Musikfestivals, darunter das Concertgebouworchester Amsterdam und das Aspen Music Festival, ernennen Fagerlund zum Composer bzw. Artist in Residence, namhafte Musiker und Orchester beauftragen Fagerlund mit Kompositionen. So ist Drifts ein Auftragswerk, auch für das Finnish Radio Symphony Orchestra, das im Jahr 2017 das Werk unter Hannu Lintu erstmals aufführt. Drifts ist der eigenständige zweite Teil einer Orchestertrilogie, zusammen mit den Stücken Stonework und Water Atlas eine Folge ekstatischer Naturbilder. Fagerlunds Komposition ist mit ihrer Wucht, dem ständigen Wechsel der Intensität eine ideale Einstimmung auf das nun folgende Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 op. 23 b-Moll von Peter Iljitsch Tschaikowski (1840 – 1893) in der Fassung von 1879.

© OF / Bernd Runge

Das 1. Klavierkonzert von Tschaikowski ist seit 150 Jahren das beliebteste und meistgespielte Klavierkonzert der klassischen Musikliteratur. Wir schreiben den Weihnachtsabend 1874 in Moskau: Der 34-jährige Tschaikowski hat elf Jahre zuvor seine Laufbahn als Beamter aufgegeben, hat Komposition am Konservatorium St. Petersburg studiert. Mit zwei Sinfonien, der Fantasie– Ouvertüre Romeo und Julia und einigen Klavierstücken beweist er sein kompositorisches Talent und wird Professor für Harmonielehre, Instrumentation und freie Komposition in Moskau. Nach Jahren ständiger Geldsorgen ist Tschaikowski sicher, sich mit seinem ersten großen Solokonzert seiner wirtschaftlichen Not entledigen zu können, ist er doch fest vom Erfolg seiner neuen Komposition überzeugt. So präsentiert er jetzt seinem langjährigen Mentor Nikolai Rubinstein, dem Pianisten und Dirigenten, das Konzert. Dieser hört sich das Werk schweigend an, um es dann in harschen, verletzenden und vernichtenden Worten als unbrauchbar und unaufführbar abzutun. Keine einzige Note werde er ändern, war die Reaktion von Tschaikowski. So erscheint 1875 die gedruckte Erstausgabe. Umgehend lässt er dem Pianisten und Dirigenten Hans von Bülow ein Notenexemplar zukommen und trägt widmet ihm das Konzert. Bülow bedankt sich begeistert für „das wertvolle Geschenk“ und kündigt an, das Konzert auf seiner bevorstehenden USA–Tournee spielen zu wollen. Die Uraufführung in der Boston Music Hall im Oktober 1875 wird ein Triumph. Weitere erfolgreiche Aufführungen in den USA, Ende 1875 in Russland und 1876 in England folgen. 1878 ändert auch Rubinstein seine Meinung und spielt das Konzert in Moskau, St. Petersburg und Paris. Die Interpreten in den Jahren nach der Veröffentlichung fühlen sich in doppelter Hinsicht herausgefordert. Einerseits wird von den Interpreten höchstes virtuoses und interpretatorisches Können verlangt, das es trotz der symphonischen Anlage und der gleichrangigen Partnerschaft mit dem Orchester zu beweisen gilt, andrerseits meinen sie, den Klavierpart „verbessern“ zu müssen und das mit Duldung und oft mit Zustimmung des Komponisten. 1879 erscheint der Erstdruck einer zweiten und 1888 einer dritten Fassung, deren Uraufführung Tschaikowski dirigiert, und die heute die meist gespielte und allgemein bekannte Version des Konzerts ist. Dabei unterscheiden sich die Fassungen weder in der musikalischen Substanz noch in der formalen Gestalt und Spieldauer. Es kommt zu Veränderungen des Soloparts, vor allem im ersten Satz, zu Änderungen von Tempo- und Artikulationsangaben, von dynamischen Hinweisen und 1888 zusätzlich zu einer unwesentlichen Kürzung im Finale. Siebzehn Takte werden durch fünf neu komponierte ersetzt, eine für Tschaikowski „verfluchte Stelle“. Die Aufführung der Fassung von 1879 erweist sich als wirkliche Neuentdeckung. Sie kommt einer authentischen Version des Konzerts am nächsten. Es bekommt in dieser Version einen ungewohnt leichten, tänzerischen, fast lyrischen Charakter, mit einer klanglich wunderbar ausbalancierten Korrespondenz zwischen dem Soloinstrument und dem Orchester, ohne auf die extremen solistischen Anforderungen zu verzichten.

Kirill Gerstein / © Marco Borggreve

Zu Recht feiert das Publikum den Solisten Kirill Gerstein enthusiastisch und gibt sich erst nach zwei Zugaben (Chopin und Rachmaninow) zufrieden. Er meistert die schwierigsten Passagen ohne Anstrengung und gestaltet seinen Part sensibel und ausdrucksvoll, ohne große pathetische Geste. Gerstein, geboren 1979 in Woronesch (damals UdSSR), besitzt heute neben der russischen auch die amerikanische Staatsbürgerschaft. Er ist ein Künstler der pianistischen Spitzenklasse. 2001 gewinnt er die Goldmedaille beim internationalen Arthur–Rubinstein–Wettbewerb, im darauffolgenden Jahr wird er mit dem Gilmore Young Artist Award ausgezeichnet. Das ist für Gerstein der Beginn einer weltumspannenden Karriere. 2010 erhält er den bedeutenden Gilmore Artist Award. Die Jury lobt seine „meisterhafte Technik, klangliche Differenziertheit und musikalische Neugier“. Für ihn gibt es keine stilistischen Grenzen. Er beherrscht das große klassische Konzertrepertoire ebenso wie Kammermusik und Jazz. Seine CD-Produktionen werden regelmäßig mit Auszeichnungen bedacht, Lehraufträge verbinden ihn mit Hochschulen in den USA und Deutschland.

Die nun folgende Sinfonie Nr. 3 von Witold Lutosławski (1913 – 1994) konfrontiert das Publikum mit einer gänzlich anderen musikalischen Stilrichtung. Lutosławski, polnischer Komponist und Dirigent, wächst in einer musikalischen Familie auf, bekommt früh Klavier- und Violinunterricht. Er studiert am Warschauer Konservatorium und wählt den Weg des Berufskomponisten. Mit seinen Sinfonischen Variationen von 1938 erregt er erstes Aufsehen. Der Beginn des Zweiten Weltkriegs verhindert eine Fortsetzung seiner Ausbildung in Paris. Nach der Flucht aus deutscher Kriegsgefangenschaft überlebt er im polnischen Untergrund. Das ersehnte Ende des Krieges wird schnell überschattet von der Ausdehnung der Macht eines stalinistisch geprägten Systems: Für die Komposition von Kinderliedern wird er ausgezeichnet, seine Erste Sinfonie wird als „formalistisch“ gebrandmarkt und verboten. Um sich über Wasser zu halten, schreibt er nun Musik für Rundfunk, Film und Theater. Die politische Lockerung in Polen eröffnet Lutosławski 1954 neue Experimentiermöglichkeiten. Er gehört keiner kompositorischen Moderichtung an, beginnt als Neoklassizist und wendet sich dann der seriellen Kompositionsweise zu – er ist auch studierter Mathematiker – , absorbiert die besten Ideen der „Zwölftöner“ und widmet sich bevorzugt der Aleatorik, angeregt durch das Klavierkonzert von John Cage. Diese Methode schreibt dem Interpreten vor, vorgefertigte Bausteine nach dem Zufallsprinzip zu einem Ganzen zusammenzufügen. Lutosławski ist begeistert von diesen Ideen, setzt sie aber auf seine eigene Weise um. 1972 bekommt Lutosławski vom Chicago Symphony Orchestra den Auftrag für die Komposition der 3. Sinfonie. Kurz darauf beginnt er mit ersten Skizzen, aber erst 1983 stellt er die Partitur fertig. Die Uraufführung findet am 29. September 1983 in Chicago unter Leitung von Sir Georg Solti statt. Die Sinfonie enthältneben streng durchkomponierten Passagen Abschnitte, die frei in der Ausführung sind und damit dem Zufall überlassen bleiben. Nur Beginn und Ende sind festgelegt. Das Werk besteht aus zwei Sätzen, die ohne Pause ineinander übergehen. Eine kraftvolle Viertonfolge leitet den ersten Satz ein, der aus drei Episoden besteht. Auf jede dieser Episoden folgt ein Intermezzo. Tutti-Einwürfe führen zu einem Höhepunkt des Werks. Der folgende zweite Satz basiert auf einem ruhigen Gesangsthema, aufsteigende Soli von Horn, Violine und Flöte werden unterbrochen durch knappe dramatische Passagen der Streicher. Ein erhabener Beginn leitet eine grandiose Schlusssteigerung ein. Die Viertonfolge des Anfangs beschließt die Sinfonie. Diese „kontrollierte“ Aleatorik ist komplex, führt zu speziellen und ausdrucksstarken Klangeffekten, sorgt für eine suggestive, emotionale Kraft und bedeutet für Konzertaufführungen, dass keine der anderen gleicht. Die Aufführung in Chicago und die darauf folgende mit dem BBC Symphony Orchestra sind wichtige Impulse für die Demokratiebewegung in Polen. Das unabhängige polnische Kulturkomitee verleiht 1983 Lutosławski den Solidarity Culture Award. Er komponiert für die größten Künstler des 20. Jahrhunderts. Als Dirigent gastiert er bei den wichtigsten Orchestern der Welt. 1994 stirbt er als international anerkannter, vielfach geehrter Musiker und Komponist, dessen Werke eine Rezeption weit über Avantgardekreise hinaus erlangen. „Er hat eine eigene, sofort erkennbare Musiksprache geschaffen. Das ist etwas, was nur wenigen Komponisten im 20. Jahrhundert gelungen ist“ (Krzysztof Meyer).

© OF / Bernd Runge

Dima Slobodaniouk (geb. 1975), ein finnischer Dirigent mit russischen Wurzeln, ist einer der gefragtesten Dirigenten seiner Generation. Er arbeitet mit den renommierten Orchestern und den besten Solisten der Welt. Überall wird er geschätzt für seine künstlerische Kompetenz. Dabei hat er eine Vorliebe für die zeitgenössische Musik. Slobodaniouk erweist sich an diesem Abend als idealer Partner für den wunderbaren Solisten Kirill Gerstein und für das glänzend aufgelegte Orchester. Jedes der anspruchsvollen Werke, die unterschiedlicher kaum sein können, ist sorgfältig, sensibel und souverän gestaltet.
Der Abend wird zu einem nachhaltigen musikalischen Ereignis!

Bernd Runge, 27. Oktober 2024


Sebastian Fagerlund: Drifts
Peter Iljitsch Tschaikowski: Klavierkonzert Nr. 1 b-Moll (Fassung von 1879)
Witołd Lutoslawski: Sinfonie Nr. 3

Konzertsaal im Kulturpalast Dresden

26. Oktober 2024

Dirigent: Dima Slobodaniouk
Solist: Kirill Gerstein, Klavier
Dresdner Philharmonie