Turandot im modernen China
Carlus Padrissa mit seiner katalanischen Akrobatentruppe La Fura dels Baus hat sich nicht zuletzt einen großen Namen gemacht mit seiner gelungenen Inszenierung von Wagners „Ring des Nibelungen“ in Valencia 2009. In seiner Bildsprache verwendete er damals in hohem Maße menschliche Leiber, um bewegliche und sich ständig verändernde Bilder zu erzeugen. Seine Darstellung des untergehenden Walhall in der „Götterdämmerung“ aus einer Gruppe im Raum schwebender Akrobaten ist unvergessen.
Mit Puccinis „Turandot“ von La Fura dels Baus aus dem Jahre 2011, die auch zum Gedenken an das 100. Todesjahr des großen Italieners von der Bayerischen Staatsoper wieder aufgenommen wurde, fanden Padrissa, sein Bühnenbildner Roland Olbeter, der Kostümbildner Chu Uroz sowie die Video- und Lichtdesigner Franc Aleu und Urs Schönebaum andere neue Wege und Bilder. Als sie in den Jahren 2009/10 wegen eines Projekts bei der EXPO 2010 in Shanghai in China unterwegs waren, sahen sie sich inspiriert von der ungeheuren Dynamik der Veränderungen, insbesondere der städtebaulichen, in Shanghai. So sahen sie unter anderem, wie Tausende Arbeiter an einem Tag ein altes Haus abrissen und an derselben Stelle eine neues errichteten. Sie waren auch beeindruckt von den scheinbar gegenseitig im Wetteifer befindlichen, ständig neu entstehenden Hochhäusern mit ihren glitzernden Leuchtdioden, mit denen unzählige Reklametafeln vertikal an den Straßenschlachten prangten. So bildete sich beim Regieteam die Idee des sich ständig zu verwandelnden Raumes. In einem Boden aus Eis – das Eis der Turandot – spiegeln sich die beiden szenischen Elemente: das große Auge/der Mond/der Gong/die Guillotine und die Gebäude, die sich ständig verändern – sowie am Ende ein idyllischer hellgrüner Bambusgarten, in dem Liu ihr Leben aushaucht und das Stück in München auch tatsächlich endet, mit dem Tod des Komponisten. Man wollte bewusst den Torso inszenieren und befindet sich damit in bester Gesellschaft. Bei der Uraufführung an der Scala di Milano 1924 brach Arturo Toscanini auch an dieser Stelle ab und sagte zum Publikum, dass hier Puccini verstarb.
Hinter dieser thematischen Zweiteilung des Bühnenbildes steht der in der chinesischen Kultur fest verankerte Glaube, dass sich „Yang“ und „Ying“ ergänzen. Und das wird von Padrissa trefflich operngerecht in Bezug auf „Turandot“ akzentuiert. Mit „Yang“ ist die dynamische Stadtentwicklung gemeint, die ständige Veränderung. „Yang“ steht für stark, aktiv, kalt, trocken und ist also mit der imperialen Herrschaft Turandots gleichzusetzen. „Ying“ hingegen steht für passiv, weiblich, fein, fließend und wird hier als das Liù-China gesehen, sanft, gutmütig und poetisch. Es kann aber eine dritte fundamentale Energie fließen, die die beiden anderen zu umfassen vermag, das „Tao“, und damit ist das Erreichen der Unsterblichkeit gemeint. Der Tod Liùs im Ying bringt die Kälte und Härte der Imperiums Turandots im „Yang“ zum Schmelzen und Einsturz. Das unterdrückte China opfert sich, um dem herrschenden China die Werte des Herzens zu offenbaren. Am Ende finden beide Kräfte zu einem Gleichgewicht mit dem Namen Tao, der bei Puccini, wie Turandot selbst singt, Liebe heißt. Ein phantastische Assoziation der Geschichte der „Turandot“ mit der konfuzianischen Lehre in China und auch eine nachvollziehbare Begründung für den Abbruch der Aufführung nach Liùs Tod im Trost spendenden Bambuswald!
Dazu finden Padrissa und Olbeter starke Bilder. Mitten über der Bühne prangt dieses enorme Auge, ein riesiger Ring, in dem der Entwicklung entsprechend das meiste Entscheidende im 1. Akt abläuft, eine Auge der Kontrolle der Untertanen, dann ist einmal der Mond zu sehen, dann Turandot das erste Mal, und auch der Prinz von Persien stirbt hier unter der Guillotine. Hinten sieht man kleine Zellen mit jeweils einer Person darin – die unzähligen kleinen Häuser, die sich immer wieder verändern. Die Kostüme passen perfekt zu diesem Ambiente, mit starker Farbgebung, immer auch das typische chinesische Rot betonend. Immer wieder werden stilisierte Totenschädel eingeblendet und in riesigen Netzen und großer Zahl hochgezogen, die Opfer der Imperiums der Turandot. Dagegen wirkt der grüne Bambuswald, in dem Liù hochbezogen wird und stirbt, wie eine Oase der Ruhe und Befriedung. Das darauf folgende und nicht mehr aufgeführte Ende kann nur zu Tao, also Liebe führen…
Saioa Hernández ist eine Respekt gebietende Turandot mit dramatisch klangvollem Sopran und einer gut tragenden Mittellage. Ihre Mimik für die kalte Prinzessin ist perfekt einstudiert. Yonghoon Lee ist nach dem Dick Johnson in der „Fanciulla del West“ auf dieser Bühne bei den Festspielen nun auch als Calaf zu erleben. Er hat einen kraftvollen Tenor, scheint sich aber immer wieder zu sehr auf das Erreichen der mit viel Kraft, aber doch stets erreichten Spitzentöne zu konzertieren. Das nimmt seiner Rolle etwas an Gewicht. Außerdem lässt sein Timbre es etwas an Wärme missen. Selene Zanetti ist eine lyrisch akzentuierende, aber zu guten und auch dann noch klangvollen Spitzentönen fähige und äußerst gemütvoll agierende Liù, ein in der Tat starker Gegenpol des „Ying“ zum „Yang“ der Turandot. Thomas Mole als Ping, Tansei Akzeybek als Pang und Andres Agudelo als Pong sind phantastisch gekleidete und maskierte Minister und sehr facettenreich mit guten Stimmen um Aufklärung bemüht. Kevin Connors gibt den Altoum majestätisch.
Der von Christoph Heil einstudierte Chor der Bayerischen Staatsoper klang wie gewohnt großartig und wurde durch die Fura dels Baus auch mehr als sonst in Bewegung versetzt, was dem Geschehen guttat. Antonio Fogliani am Pult des Bayerischen Staatsorchesters neigte, eventuell durch das äußerst intensive Geschehen auf der Bühne bedingt, vor allem zu Beginn zu einer zu starken Lautgebung. Insgesamt war es aber nicht nur szenisch, sondern auch musikalisch ein ungewohnt spannender und abwechslungsreicher Abend am Nationaltheater.
Klaus Billand, 31. Oktober 2024
Turandot
Giacomo Puccini
Bayerische Staatsoper
Besuchte Vorstellung: 9. Oktober 2024
Premiere am 3. Dezember 2011
Inszenierung: La Fura dels Baus
Musikalische Leitung: Antonio Fogliani
Bayerisches Staatsorchester