Als die „bei Weitem wichtigste Oper in russischer Sprache seit dem Zweiten Weltkrieg“ bezeichnete David Pountney, der ehemalige Intendant der Bregenzer Festspiele, Mieczysław Weinbergs „Die Passagierin“. Pountney führte Regie bei der szenischen Uraufführung am 21. Juli 2010 in Bregenz – eine konzertante Uraufführung hatte es in Moskau 2006 gegeben.
Weshalb war dieses Werk so lange unaufgeführt geblieben? Es geht in der Oper schließlich darum, daß die ehemalige KZ-Aufseherin Lisa 15 Jahre nach Kriegsende auf einem Passagierschiff die frühere Insassin Martha wiederzuerkennen glaubt. Die Szenen spielen abwechselnd auf dem Schiff und in Auschwitz, und man sollte meinen, daß die 1968 vollendete Oper des 1939 aus Polen in die Sowjetunion geflüchteten Komponisten für den sowjetischen Kulturbetrieb ein gefundenes Fressen gewesen wäre, um Kritik am ja gebetsmühlenartig verdammten Faschismus zu üben. Tatsächlich durfte die Oper im Stalin-Rußland nicht gezeigt werden, weil die Konzentrationslager der Nazis offensichtlich zu stark an das Gulag-System Stalins erinnerten.
Glücklicherweise steht „Die Passagierin“ seit einigen Jahren auf den Spielplänen der internationalen Opernhäuser, derzeit ist sie am Theater Lübeck sowie in München zu sehen (Der Opernfreund berichtete: https://deropernfreund.de/theater-luebeck/luebeck-die-passagierin-mieczyslaw-weinberg/; https://deropernfreund.de/bayerische-staatsoper/muenchen-die-passagierin-mieczyslaw-weinberg-4/).
Der Musikwissenschaftler Ludwig Steinbach hat bereits 2015 eine Analyse der Oper präsentiert, die Zweitauflage erfolgte 2019. Respektive der aktuellen politischen Entwicklungen sind nicht nur die Inszenierungen dieses bemerkenswerten Werks so wertvoll; es ist auch zu begrüßen, daß Steinbach eine so detaillierte Darstellung von Inhalt und Musik der „Passagierin“ entworfen hat. Daher ist dieses Buch gerade ebenfalls hochaktuell und dient dem tieferen Verständnis dieser komplexen Oper, in der Libretto und Partitur ein erschütterndes Zeugnis dessen ablegen, wozu Menschen in der Lage sind. Die industriell, ja wissenschaftlich betriebene Vernichtung einer unfaßbaren Menge von Menschenleben ist in ihrer Dimension zu abstrakt, um sie begreifen zu können. Weinberg erzählt von Einzelschicksalen und entreißt die Opfer der Anonymität einer bloßen auf den Unterarm tätowierten Nummer.
Wie der Komponist das macht und wie verwoben die musikalischen Themen, die auch dodekaphonische und Volkliedmotive enthalten, in den ungemein dichten Text sind, macht Steinbach durch zahlreiche Notenbeispiele erfahrbar. Selten wohl dürfte ein Werk der Moderne so ausgiebig durchanalysiert worden sein; Steinbach kennt wirklich jeden Ton des Werks und durch eben diese feingliedrige Darstellung wird dem Leser klar, um was für ein grandioses Opus es sich hier handelt. Steinbach läßt sich in seinem sprachlichen Duktus auch zu emotionalen Äußerungen und Würdigungen der Qualität hinreißen, was absolut angebracht ist. Zu Recht charakterisiert der Autor die Oper als „großartiges, aber doch bedrückendes Erlebnis“. Er zeigt auf, wie die psychologischen Feinzeichnungen sich in der Partitur gestalten und wie vielschichtig die Musik die Handlung widerspiegelt, sie voranbringt und mit Querverweisen spielt.
Besonders wertvoll in der Zweitauflage ist die sehr gut recherchierte Biographie der Aufseherin Lisa Franz, die hier in einem differenzierten Blick dargestellt wird. Offenbar war sie keine Schlächterin, sondern durchaus mit menschlichen, ja freundlichen Zügen ausgestattet, aber im Laufe ihrer „Karriere“ wird eine negative Entwicklung ihres Wesens deutlich. Wer sich mit dem Bösen einläßt, muß entweder irgendwann aussteigen oder wird eben selbst zunehmend Teil davon.
Für alle, die Weinbergs „Passagierin“ näher kennenlernen und ihre musikalische Feinstruktur verstehen wollen, ist das Buch unbedingt zu empfehlen.
Andreas Ströbl, 30. November 2024
Ludwig Steinbach
Weinbergs Passagierin
Eine Analyse der Auschwitz-Oper.
Verlagshaus Schlosser, Kirchheim 2019 (2. Auflage)
ISBN: 978-3-86937-739-1