Lieber Opernfreund-Freund,
unglaublich, aber wahr: das Haus am Offenbachplatz war rund eineinhalb Jahre zuvor eröffnet worden, als sich in Köln am 28. September 1958 zum letzten Mal der Vorhang für eine Neuproduktion von Verdis Nabucco unter der Regie des damaligen Hauschefs Herbert Maisch hob und noch auf Deutsch gesungen wurde. Seither gab es in der Domstadt lediglich konzertante Aufführungen in der Philharmonie sowie 2007 eine Produktion von Verdis Opernhit in der Lanxess-Arena. Gestern nun hatte ein neuer Nabucco im Staatenhaus seine Premiere – und gerät zum wahren Sängerfest.
Kann man diese von Anfang an hochpolitische Oper angesichts der Geschehnisse im Nahen Osten und des wachsenden Antisemitismus überall auf der Welt ohne Gegenwartsbezug auf die Bühne bringen? Regisseur Ben Baur meint „ja“, setzt dabei ganz auf die universelle Wirkung der Geschichte und die Wucht von Verdis Musik und stellt den Traum von der Macht in den Mittelpunkt. Ursprünglich sollte die nach 66 Jahren längst überfällige Neuproduktion im wiedereröffneten Opernhaus gezeigt werden. Doch da es dem Vernehmen nach noch etwas dauern kann, bis dort Nabucco oder irgendetwas anderes erklingt, hat Ben Baur seine Bühne an die Gegebenheiten der Ausweichspielstätte angepasst. Die erinnert an eine Mischung zwischen Wellblechbaracke und ehemaliger Fabrikhalle. Zwar ist die Grundstimmung düster und das Licht so dunkel, als müsste Strom gespart werden und die Kostüme von Julia Katharina Berndt zeigen mehr als fünfzig Shades of Grey. Doch Baurs gekonnte Personenregie belebt die Bühne. Bis zum Finale, bei dem er niemanden aus dem Umfeld von Nabucco am Leben lässt, steckt er den Tyrannen in eine Gitterbox, in der er wie ein gefangener Tiger gehalten wird, präpariert ihn wie einen Demonstranten mit einem Schild und lässt ihn am Ende von Zaccaria ermorden – denn auch der träumt von der Macht. Dass er vor dem 4. Akt Ingeborg Bachmann rezitieren lässt, scheint entbehrlich, die Inszenierung DES Schlagers aus der Oper schlechthin hingegen gerät bravourös, indem er beim Va pensiero nicht den Chor ins Zentrum stellt, sondern den Fokus auf dem Gewaltherrscher belässt.
Der Chor ist ohnehin der heimliche Star dieser Oper und ist das auch gestern Abend im Kölner Staatenhaus. Unter der Leitung von Rustam Samedov bilden die Damen und Herren nicht nur den Rahmen für ein Sängerfest, sondern sind selbst der Hauptbestandteil davon. Ausgewogene Stimmen vereinen sich zu einem stimmungsgeladenen Klangteppich zwischen Furcht und Kampfeslust. Gleichermaßen facettenreich gelingt dem italienischen Dirigenten Sesto Quatrini sein Hausdebüt. Er lässt diesen frühen Verdi in all seinen Farben leuchten, arbeitet hochpräzise und dabei so nuanciert, dass das Zuhören eine wahre Freude ist.
In der Titelrolle brilliert Ernesto Petti, der den Nabucco in all seinen Seelenzuständen mit hoher Intensität verkörpert. Er gibt den heroischen Tyrannen ebenso überzeugend wie den gebrochenen Herrscher und ist bei aller stimmlichen Kraft auch zu berührenden Piani fähig. Ähnlich facettenreich zeigt sich der bewegliche Sopran von Marta Torbidoni in der oft als unsingbar bezeichneten Rolle der Abigaille. An Wahnsinn grenzende Koloraturen wechseln sich mit brillanten Spitzentönen ab. Gekrönt wird die leidenschaftliche Interpretation der Italienerin von einer unglaublichen Bühnenpräsenz. Evgeny Stavinsky ist ein stimmgewaltiger Zaccaria, der mit seinem raumfüllenden Bass noch den letzten Winkel des Staatenhauses zum Beben bringt. Aya Wakizono gelingt eine berührende Fenena, während Ensemblemitglied Young Woo Kim als Ismaele debütiert und in dieser an sich undankbaren Tenorpartie wahrlich zu glänzen versteht. Seine Ensemblekollegen Lucas Singer als präsenter Oberpriester und John Heuzenroeder als Abdallo komplettieren die Sängerriege, die mich wunschlos glücklich zuhören lässt.
Ähnlich geht es auch dem Premierenpublikum im voll besetzten Staatenhaus, das alle Beteiligten am Ende mit rauschendem, nicht enden wollenden Applaus feiert. Die Oper Köln hat bis Mitte Januar 14 Folgevorstellungen angesetzt und deshalb in nahezu allen Rollen bis hin zum Dirigenten eine zweite Besetzung vorgesehen. Die des Premierenabends zumindest kann ich Ihnen, lieber Opernfreund-Freund, uneingeschränkt empfehlen.
Ihr
Jochen Rüth
2. Dezember 2024
Nabucco
Oper von Giuseppe Verdi
Oper Köln
Premiere: 1. Dezember 2024
Regie: Ben Baur
Musikalische Leitung: Sesto Quadrini
Gürzenich-Orchester Köln
weitere Vorstellungen: 5., 7., 11., 13., 18., 21., 23., 26., 28. und 30. Dezember 2024 sowie 3., 5., 9. und 12. Januar 2025