St. Gallen: „Die Fledermaus“, Johann Strauss

Man schämt sich fast ein wenig, dass man während dieser knallbunten Aufführung der wohl bekanntesten Operette aus der goldenen Ära dieses Genres so oft gelacht – und nicht bloß amüsiert geschmunzelt – hat. Denn die Regisseurin Guta Rau schöpft in ihrer Inszenierung (Premiere war 2022) aus dem Füllhorn der altbackenen Schwank- und Klamottenkiste – aber mit so viel Spritzigkeit und Augenzwinkerei, dass man eben doch alle intellektuelle Distanziertheit ablegt und drauf losprustet. Einige Darsteller schrammen nicht bloß knapp an der Grenze zum Chargieren vorbei, sondern überschreiten diese Grenze bewusst: So vor allem der Spiritus Rector der ganzen Handlung, Dr. Falke, der mit ungeheurer Bühnenpräsenz und herausragendem tänzerisch-rhythmischen – und selbstredend – stimmlichem Talent von Äneas Humm gegeben wird und der Gaststar dieser Wiederaufnahmen Série, Rolando Villazón, in seinem auch gesanglich souveränen Rollendebüt als Gabriel von Eisenstein, der wie weiland Butler James in Dinner for One slapstickartig über die Bühne stolpert, proportional intensiviert durch den unaufhörlichen Alkoholgenuss, der auf der Bühne zelebriert wird. Wohlverstanden, das ist clownesk, gekonnt naiv, aber tatsächlich ziemlich lustig.

© Ludwig Olah

Mit Äneas Humm und Rolando Villazón, dem Bariton und dem Tenor, hat sich quasi ein Dreamteam der schwank haften Darstellungskunst gefunden. Die Dialoge haben Witz, die Pointen sitzen perfekt, einzig im zweiten Akt stellte sich bei mir eine gewisse Übersättigung ein, doch der dritte Akt im Gefängnis machte alles wieder wett. Hier agiert das langjährige Ensemblemitglied, der Bariton David Maze (unvergessen als Onegin oder Don Alfonso u.v.a.m.), als St. Galler Kantonspolizist Frosch, sortiert die Schnapsflaschen alphabetisch ein (von A wie Appenzeller bis S wie Säntiswhisky – den gibt’s wirklich! – und ekelt sich vor der Bratwurst mit Senf, die unter O wie Olma abgelegt wird). Dazwischen muss er sich mit dem unaufhörlich singenden Alfred (großartig: Brian Micheal Moore) in Zelle 12 herumschlagen, auf dessen „Sing mit mir“ er trocken reagiert: „Ich singe nicht mit dir, ich habe eine Sprechrolle.“ Brian Michael Moore schlüpft nicht bloß in Eisensteins Morgenrock, sondern verkörpert auch noch umwerfend die kettenrauchende Reinigungskraft Walpurga, welche Orlofskys Ballsaal und den Zellentrakt reinigt. Herrlich!

Heutzutage läuft anscheinend auf den Brettern, die die Welt bedeuten, nichts mehr ohne Elemente des Crossdressing, so auch in der Balletteinlage, welche von Kinsun Chan choreografiert worden war: Die Tänzer drehen sich erst ganz klassisch zu Johann Strauss‘ Tritsch-Tratsch-Polka, doch schon bald wird klar, dass in diesem Arrangement, das Paul Desenne für Gustavo Dudamel arrangiert hatte, kein Ton auf dem andern bleiben wird, die südamerikanischen Rhythmen zwischendurch den Strauss verdrängen. So ist es unausweichlich, dass sich die drei Paare ihre klassischen Balloutfits vom Leibe reißen und darunter pinke Pailletten Bustiers und Corsagen bei Männlein und Weiblein zum Vorschein kommen werden. Bei einem Tänzer ging die Hose zu früh auf, so dass dann der Überraschungseffekt nicht gar so groß war.

Und wenn wir schon beim Crossdressing sind: Auch Gefängnisdirektor Frank (ganz toll und agil gesungen von Kristján Jóhannesson) entdeckt seine Lust an der Verkleidung, wirft sich eine Federboa über und eine Art blaues Negligé und findet, dass dies seiner Augenfarbe schmeichle. Jennifer Panara in der androgynen Hosenrolle des Prinzen Orlofsky intoniert das Chacun à son goût sehr dezent, mit angenehm timbrierter, warmer Stimme, ohne künstlich forcierte Exzesse, kann aber durchaus auch die Domina herauskehren, wenn sie dem auf dem Boden liegenden Dr. Falke den kniehohen Lackstiefel in den Schritt presst. Von Beginn weg fließt der Alkohol in Strömen. Bereits im ersten Akt ist die reichhaltig bestückte Bar im großen Rund Sofa des Boudoirs von Rosalinde eingebaut.

Im zweiten Akt werden die Champagnerflaschen gleich kübelweise hereingetragen und vom dritten Akt mit dem alphabetischen Flaschenschrank (auch im Rund Sofa eingebaut) habe ich bereits berichtet. Die Rundsofas kehren dann im zweiten Akt in verfeinerter Form zurück, darauf gleiten die Ballgäste wie auf Autoscootern über die Tanzfläche in Orlofskys Ballsaal. Äneas Humm stimmt sein „Brüderlein und Schwesterlein“ von der Spitze des großen Rundosfas aus an. Danach ist die Gesellschaft so beschwipst (auch musikalisch gerät das aus dem Tritt, von den Tänzern ganz zu schweigen), dass die Pause eingefügt wird. Danach geht das Fest mit der erwähnten Tritsch-Tratsch-Polka und der Huldigung auf den König aller Weine zu Ende, und Walpurga wischt den Boden, bevor sich der Vorhang zum blitzschnell aufgebauten Gefängnis öffnet. Bevor ich zu den Damen komme (Orlofsky ist ja weder noch …) muss unbedingt Riccardo Botta als Dr. Blind erwähnt werden. Was für eine Klasseleistung war denn das! Zu singen hat er ja nicht gerade viel, außer seinem Gestotter. Aber mit seiner ungeheuren Bühnenpräsenz, seiner durch Kissen aufgeplusterten Körperlichkeit, die in den Tänzen (vor allem mit Ida!) aber durch Eleganz besticht, war er ein echter Hingucker. Er macht seinem Bühnennamen (Blind) alle Ehre, fand z.B. im ersten Akt nie die richtige Tapetentür.

© Ludwig Olah

Nun zu den Damen: Athanasia Zöhrer gab eine wunderbare, mit schönem, leicht ansprechendem Sopran gestaltende Rosalinde, sang einen berauschenden Csárdás im zweiten Akt und verpasste Rolando Villazón, als er um Vergebung bettelnd vor ihr im dritten Akt auf dem Kissen (das vorher Dr. Blinds Bauch gewesen war) kniete, eine schallende Ohrfeige. Wer kann sich das schon erlauben, einem Opern- und Medienstar wie Villazón einer ist, mit solch gekonnter Wucht eine runterzuhauen? Das hat gesessen! Umwerfend chargiert auch die quirlige Adele von Kali Hardwick als etwas beschränktes Stubenmädchen (ihr Wortschatz besteht vorwiegend aus einem Wort: „saugeil“, der Running Gag nutzt sich aber durch zu häufige Wiederholung ab). Sobald sie jedoch singt und ihre Koloraturen perlen lässt, hängt man an ihren Lippen. Wunderbar! Swane Küpper drängt sich als ihre tanzambitionierte Schwester Ida oftmals gekonnt und leicht schräg in den Vordergrund und lässt mit ihrer hochinteressanten Sprechstimme aufhorchen. Auch das eine herrliche schauspielerische Leistung. Sehr stimmig fand ich die Gestaltung des Bühnenraums durch Marlies Pfeifer, ein Raum, schnell wandelbar für die drei Akte und fantasievoll bespielbar. Ein echter Hingucker waren die grandios überzeichneten und die Träger auf träfe Art charakterisierenden Kostüme von Claudio Pohle. Die farbenreiche, die Szenen großartig untermalende Lichtgestaltung entwarf Andreas Enzler.

© Ludwig Olah

Der etwas aus der Zeit gefallenen Handlung, der Guta Rau mit viel Klamauk und Übertreibung ihren Tribut zollte, steht die wahrlich unsterbliche Musik von Johann Strauss zur Seite. Während man sich die Fledermaus bloß im Abstand von mehreren Jahren ansehen mag, kann man die Musik immer wieder und gerne genießen. Das ist melodischer Einfallsreichtum und Beschwingtheit in Vollendung. Diesem Anspruch wurden alle Ausführenden mehr als gerecht. Vor allem aber das Sinfonieorchester St. Gallen begeisterte unter der Leitung von Michael Balke mit Schmiss, dynamischer Differenzierungskunst und wunderschön herausgearbeiteten Soli. Diese zu Recht unsterbliche Musik rückte die Scham, welche ich zu Beginn meiner Würdigung erwähnt hatte, am Ende dann doch in den Hintergrund, und ich stimmte ein in den großen Jubel des voll besetzten Hauses.

Kaspar Sannemann, 13. Dezember 2024


Die Fledermaus
Johann Strauss

KonzertTheater St. Gallen

Premiere 10. Dezember 2024

RegieGuta Rau
Musikalische Leitung: Michael Balke
Sinfonieorchester St. Gallen