Berlin: „Robinson Crusoé“, Jacques Offenbach

Weder vor antiken Göttern noch vor dem Urbild des begnadeten Sängers, dem Griechen Orpheus, machte der Spott des deutsch-französischen Komponisten Jacques Offenbach halt, und ausgerechnet der Abenteurer Robinson Crusoé und dessen Inseldasein wurden ihm Anlass für ein Hoch auf Ehe, Familienleben und Heimat. 1867 wurde das nach den Erfolgen Orpheus in der Unterwelt, Die schöne Helena und Pariser Leben entstandene zweite Auftragswerk der Opéra Comique, das zunächst den Arbeitstitel Toby getragen hatte, uraufgeführt und war mit 32 Aufführungen ein eher mäßiger Erfolg, nachdem es dem Komponisten den Vorwurf eines nicht ganz geglückten Spagats zwischen Opéra-bouffe und Grand Opéra eingebracht hatte. Für 1870 waren Aufführungen in Wien und Darmstadt geplant gewesen, die aus bekannten historischen Gründen nicht stattfanden, und zum hundertsten Jahrestag des Todes des Komponisten brachte Opera Rara eine Fassung in englischer Sprache heraus, und im Archiv von Radio France schlummert seitdem eine konzertante Aufführung von Radio France mit bekannten französischen Sängern. Einen gewissen Bekanntheitsgrad haben die Sea Symphony, das Lied vom Schmortopf und der an Lucia di Lammermoor erinnernde Walzer.

© Ali Ghantschi

Wie immer steuert die Komische Oper ein gut informierendes Programmheft auch zu den konzertanten Aufführungen um Weihnachten herum bei. Und so erfährt man zu seinem Erstaunen, dass Offenbachs Werk eher eine Liebesgeschichte sogar mit Hohem Paar und Buffopaar ist, der liebevolle Sohn Robinson sich auf die Schatzsuche begibt, um seinen Eltern einen angenehmen Lebensabend zu ermöglichen, mit dem Schiffshund strandet, zu dem sich auf der für Jahre zum Aufenthaltsort werdenden Insel noch ein Papagei und der Eingeborene Vendredi (Freitag) gesellen, welcher seine Augen vergeblich zur mit Freunden auf der Insel landenden Verlobten Robinsons erhebt, und alle kehren, nachdem noch ein Abenteuer mit einheimischen Kannibalen samt deren europäischem Koch überstanden ist, glücklich und nach Paaren geordnet nach England zurück. Natürlich ist das kein „kolonialistischer Blick auf Primitive“, sondern eher eine wenn auch verhaltene Kritik an der eigenen Gesellschaft.

Das zweieinhalb Stunden dauernde Stück ist in der Komischen Oper auf hundert Minuten ohne Pause zusammengeschnurrt, eine erfundene Schwester Offenbachs mit Namen Jacqueline verbindet erzählend zwischen den einzelnen Musikstücken, die Sänger sind vor dem auf der Bühne postierten Orchester platziert. Wie immer bei diesen zur schönen Tradition gewordenen Aufführungen hat man auf eine angemessene Kostümierung viel Wert gelegt (Katrin Kath-Bösel). Auch für eine angemessene Personenregie ist durch Felix Seiler gesorgt, und zahlreiche Lichteffekte lassen auf der Rückwand das Meer wogen oder das happy end mit Diskokugeln feiern (Johannes Scherfling). Der Chor (David Cavelius) schmettert mit Lust Seemännisches. Weggelassen, und dem trauert das Publikum offensichtlich nicht nach, sind lediglich Versuche der Umdeutung, Modernisierung, Aktualisierung, Verfremdung oder Politisierung.

© Ali Ghantschi

Für das elegante, straffe, spritzige Musizieren ist das Orchester der Komischen Oper unter Adrien Perruchon zuständig, zu dem eigentlich der französische Originaltext besser gepasst hätte, umso mehr, als die deutsche Übersetzung ohnehin als Übertitel existierte. So geriet Einiges dann doch in die Nähe biederen deutschen Singspiels, was andererseits wieder durch den leichten Akzent einiger der Mitwirkenden aufgehoben wurde. Die als Erzählerin auf dem Besetzungszettel erscheinende Andreja Schneider, sonst oft zusammen mit den Geschwistern Pfister auftretend, erschien als Ebenbild ihres Bruders Jacques, betonte allerdings ihre Weiblichkeit und gleichzeitig die Eineiigkeit, was nur den Schluss zulässt, die Komische Oper habe doch nicht der Versuchung widerstehen können, wenigstens ein klein wenig die Fahne des Queeren hochzuhalten. Auch alle Sänger erwiesen sich als vorzügliche Schauspieler, dazu hatte Augustin Gómez noch einen farbigen, geschmeidigen Tenor für die Titelpartie, Miriam Kutrowatz einen höhensicheren hellen Sopran für die Edwige, und das Elternpaar war mit Tom Erik Lie als Sir William Crusoé und Karolina Gumos als Deborah zwei bewährten, vollmundigen Säulen des Ensembles anvertraut. Ein entzückendes Biest von Suzanne sang Sarah Defrise, ihr zur Seite stand mit präzisem Buffotenor Andrew Dickinson als Toby. Christoph Späth machte viel aus der kleinen Partie des Jim Cocks. Die durch Timbreschönheit, Ebenmaß und Eindringlichkeit bemerkenswerteste Stimme des Abends war die von Virginie Verrez als Freitag, eine Partie, die Offenbach für die Sängerin komponiert hatte, die auch die erste Carmen war.

Auch in diesem Jahr ist es der Komischen Oper wieder gelungen, ihrem Publikum inmitten all des Weihnachts- und sonstigen Stresses einen entspannenden, vergnüglichen und dabei doch künstlerisch anspruchsvollen Abend zu schenken.

Ingrid Wanja, 22. Dezember 2024


Robinson Crusoé
Jacques Offenbach

Komische Oper Berlin

Premiere am 22. Dezember 2024

Musikalische Leitung: Adrien Perruchon
Orchester der Komischen Oper Berlin