Bei dieser Produktion handelt es sich um die Wiederaufnahmeder von Peter Konwitschny vor rund zwölf Jahren verantworteten Regie. Mehr als Konwitschnys Auffassung von Alfredo als selbstverlorenem Bücherwurm und der Einführung von Alfredos noch im Pflichtschulalter befindlichen Schwester muss auf die in dieser Fassung vom Regisseur veranlassten Striche eingegangen werden. Können die fehlenden Wiederholungen in Alfredos Cabaletta bzw. das völlige Fehlen der Cabaletta von Germont Vater noch hingenommen werden, so schmerzt es doch sehr, dass „Addio del passato“, der Abschied Violettas vom Leben, sich nur in einer Strophe abspielt. Diskutieren kann man über den großen Strich, der das Ballett im 3. Bild völlig eliminiert – einmal, weil diese Musik nicht – wie in anderen Fällen – für das Pariser Publikum nolens volens hinzugefügt wurde, und auch, weil dabei die Charakterisierung des Marquis d’Obigny und der Flora Bervoix entfällt und den betreffenden Sängern die Möglichkeit nimmt, zur Profilierung dieser Rollen beizutragen.
Nun, wir wissen, wie das heutzutage läuft: Der Regisseur hat das Sagen, die Musiker müssen sich fügen. Allerdings gelang es Matteo Beltrami am Pult der Grazer Philharmoniker, diesen von vielen Zuhörern nicht goutierten Zugang vergessen zu machen, denn das Orchester widmete sich unter seiner Stabführung komplett Verdi. Die ersten zarten Takte ließen daran denken, dass die im Sterben liegende Violetta ihr Leben nochmals vor ihrem inneren Auge ablaufen lässt – umso stärker war dann die Wirkung bei den ersten Takten des Festes, die den Abgrund des seichten Vergnügens aufrissen, in dem Violetta ihre Angst vor der Krankheit zu verbergen sucht. In dieser Verdi absolut treuen, aber in jedem Moment von faszinierender Farbe und Agogik gezeichneten Interpretation drückte Beltrami mit dem merklich begeistert mitgehenden Orchester diesem Meisterwerk den persönlichen Stempel seiner Auffassung auf.
Die Inszenierung zeigte wieder, wie schwierig es ist, eine auf eine bestimmte Auslegung abgestellte Regie (seinerzeit interpretierte die Singschauspielerin Marlis Petersen die Titelrolle) einer anderen Sängerin anzupassen. Die chinesisch-amerikanische Sopranistin Heather Engebretson ist ein schauspielerisch sehr dynamischer Typ; man würde der kleinen Person durchaus zutrauen, sich gegen den alten Germont durchzusetzen. Damit ist dramaturgisch manches nicht im Lot, aber die Künstlerin überzeugt in ihrer Art, auch weil sie mit sicherer Koloratur (aber richtigerweise ohne das fakultative „e“) und später mit expressiver lyrischer Kantilene gefällt. Der Russe Alexey Neklyudov entspricht mit wenig interessant timbriertem Tenor der Sicht Konwitschnys auf die Figur des Alfredo als blassem Liebhaber. Bei seiner szenischen Leistung ist schwer zu beurteilen, ob ob es dem Sänger an Temperament mangelt oder er sich dem Regisseur fügte. Die stimmlich beste Leistung kam von James Rutherford, der als Germont père schon bei der Premiere dabei war. Er sang mit expressivem, schönem Legato und machte damit wett, dass er einen mehr als autoritären, nämlich gewalttätigen Vater spielen musste, der nicht davor zurückschreckt, seine kleine Tochter (in der Gestalt von Menna Alkazemi)zu Boden zu schleudern.
Die Flora der schönstimmigen Andzelika Wisniewska ließ doppelt bedauern, dass ihre Rolle so beschnitten war. Eine mitfühlende Annina war Corina Koller, ein schön „bassiger“ Grenvil Daeho Kim. Yalun Zhang (Gaston), Dariusz Perczak (Douphol) und Neven Crnic (Obigny) schickten sich gefasst in ihr Los als Träger gekürzter Rollen. Das Publikum im vollen Haus war auch in dieser vierten von fünf angesetzten Vorstellungen so begeistert, dass für Januar eine Zusatzvorstellung organisiert werden musste, die wieder Beltrami leiten wird.
Eva Pleus, 1. Dezember 2022
„La Traviata“ Oper Graz
Aufführung am 16. November 2022 (Wiederaufnahme)
Premiere am 22. Januar 2011
Inszenierung: Peter Konwitschny
Dirigat: Matteo Beltrami
Grazer Philharmoniker