Graz: „La Traviata“ Giuseppe Verdi

Konwitschnys Traviata-Deutung hatte vor über zehn Jahren ihre umjubelte Premiere in Graz, man konnte sie seither im Fernsehen erleben, es gibt sie auf DVD , sie war ebenso umjubelt in Nürnberg, in London, in Seattle und im Theater an der Wien zu sehen. Warum also darüber neuerlich berichten? Der nochmalige Besuch hat eindrucksvoll bewiesen, was jeder Opernfreund weiß: Gültiges modernes Musiktheater – und das ist hier Konwitschny zweifelsfrei gelungen! – erweist seine wahre Stärke im Moment der Aufführung und mit jeweils neuen Protagonisten. Die Grazer Oper hat daher völlig zurecht die Produktion neuerlich wieder aufgenommen: gerade mit einer fast gänzlich neuen Besetzung erweist sich das Konwitschny-Konzept als überzeugender Wurf. Das Stück konzentriert sich auf die Titelfigur – auf „die vom Weg Abgekommene“, wie Konwitschny schreibt. Glaubte man in der Premierenbesetzung, dass das Konzept ganz auf die wunderbare kapriziös-zerbrechliche Marlis Petersen zugeschnitten und von ihr getragen ist, so erlebte man nun, dass es auch mit ganz anderen Protagonisten funktioniert und überzeugt. Als Bühneninventar gibt es nur einen Stuhl und einen Stapel von Büchern. Das Bühnenbild sind rote Vorhangbahnen, die vielfältige Auftrittsvarianten ermöglichen. Das ist modernes Musiktheater mit sparsamsten Mitteln!

©Werner Kmetitsch, Oper Graz

Zentrum des Geschehens ist diesmal die 32-jährige chinesisch-amerikanische Sopranistin Heather Engebretson, die die Violetta erstmals schon 2016 in Wiesbaden verkörpert hatte und nun erfolgreich ihren internationalen Weg geht. Sie dominiert als trotzige Kindfrau die Szene mit ihrer technisch absolut sicher geführten Stimme. Da gibt es keinen warm-verführerischen Klang, sondern relativ eindimensionale, fast schneidende Stimmdominanz. Erst im Sterben des letzten Aktes erlebt man persönliche Betroffenheit und sie gewinnt die Herzen – insgesamt eine schlüssige und mögliche Interpretation, wenn ihr auch die Vielfalt von Salondame, liebender und verzweifelter Frau fehlt. Man versteht ihren Rollenzugang besonders gut, wenn man weiss, dass Engebretson zwischen den Grazer Terminen ihre in der Presse hochgelobte Salome in Basel singt.

Der warmtimbrierte stimmliche Gegenpol ist James Rutherford – der einzige, der schon 2011 dabei war und der seine große Stimme in allen Lagen breit strömen lässt. Seit der Grazer Zeit ist er ja international ganz im deutschen Fach tätig. Eben kommt er aus Duisburg, wo er den Fliegenden Holländer erfolgreich interpretierte und zwischen den Grazer Traviata-Aufführungen auch wieder singen wird. Das Grazer Publikum hat ihn aus seiner Grazer Zeit in bester Erinnerung – hier hatte er zwischen 2009 und 2015 seine Rollendebuts als Hans Sachs, Barak („Die Frau ohne Schatten“), Iago („Otello“), Orest, Falstaff, Guillaume Tell, Scarpia („Tosca“) und Billy Bigelow („Carousel“). Es spricht für
Rutherford, dass ihm die lyrische Verdi-Kantilene des Vater Germont so wunderbar gelingt – nach meiner Erinnerung heute noch überzeugender als bei der Premiere. Rutherford ist Jahrgang 1972 – ihm stehen also hoffentlich noch viele erfolgreiche Karrierejahre bevor. Möge er weiterhin neben dem deutschen dramatischen Fach im lyrischen Belcantofach auftreten. Das tut der Stimme gut und gelang ihm diesmal ausgezeichnet!

©Werner Kmetitsch, Oper Graz

Alfredo ist der 34-jährige russische Tenor Alexey Neklyudov, der derzeit internationale Karriere macht. Im Sommer war er bei den Salzburger Festspielen der Rinuccio in Gianni Schichi, in Zürich war er eben der Partner von Diana Damrau in Anna Bolena und auch er singt zwischen den Grazer Terminen an seinem Stammhaus, der Novaya-Opera in Moskau – und zwar den Lenski . Neklyudov verfügt über einen schlanken und gut sitzenden lyrischen Tenor, der an diesem Abend in Graz leicht gefährdete Spitzentöne hören ließ und über eine bescheiden-sympathische Bühnenausstrahlung verfügt. Da er bei der Fotoprobe krankheitshalber nicht dabei sein konnte, konnte die Oper Graz keine Produktionsfotos zur Verfügung stellen. Hier also ein Foto als Lenski an seinem Stammhaus.

Eine Stärke der Grazer Wiederaufnahme ist zweifellos die sehr gute, jugendliche und rollendeckende Besetzung der kleineren Partien. Das beweist die Qualität der Nachwuchspflege im Grazer Opernstudio. Ausdrücklich genannt seien Andżelika Wiśniewska als Flora und Corina Koller als Annina sowie die Herren Dariusz Perczak als Douphol und Neven Crnić als Marquis d’Obigny, die beide aus dem Opernstudio hervorgegangen sind und sich inzwischen auch in Rollen des 1.Fachs bewähren. Das Lob schließt auch Yalun Zhang (Gastone) und Daeho Kim (Doktor Grenvil) ein. Der Chor der Oper Graz (Einstudierung: Bernhard Schneider) bewährt sich wieder außerordentlich – mit geradezu schneidender stimmlicher Präzision und gewohnter Spielfreude, die gerade in dieser Konwitschny-Inszenierung so wichtig ist.

©Werner Kmetitsch, Oper Graz

Am Ende sei ganz besonders die großartige Leistung der Grazer Philharmoniker und des Dirigenten Matteo Beltrami hervorgehoben. Beltrami hatte zuletzt in Graz recht erfolgreich Verdis La forza del destino einstudiert. Diesmal fand ich ihn vollends überzeugend. Da erlebte man federnden, nie banalen Verdi-Klang. Jeden Phrase war durchgestaltet, ohne dass der Gesamtbogen verloren ging – und die Philharmoniker unter dem Konzertmeister Josef Mostetschnig musizierten höchst konzentriert und mit wunderbaren Instrumentalsoli. Wie schön, dass am Tag vor der Premiere im Online-Merker ein sehr informatives Interview mit Beltrami erschienen war. Man konnte so sehr gut seine Liebe zum (sprachlichen) Detail nachverfolgen und erleben, wie wichtig diese Detailarbeit für den Gesamtduktus ist. Die Klangbalance zwischen Orchester und Bühne war stets ideal gewahrt und Beltrami verstand es sehr gut, auf die Bedürfnisse der Sänger einzugehen. Dirigent und Orchester trugen Entscheidendes dazu bei, dass diesmal wirklich ein Gesamtkunstwerk von Musik und Szene entstehen konnte.

Es gibt am 3., 10., 16. und 19. November noch vier Aufführungen – der Besuch wird wärmstens empfohlen. Es ist eine Produktion, die Opernneulinge ebenso begeistern wird wie Opernfreunde, die glauben, das Stück in-und auswendig zu kennen. Seien Sie versichert: das ist eine moderne Wiedergabe, die neu und spannend ist. So etwas erlebt man nur live und nicht im Fernsehen oder auf elektronischen Bild/Tonträgern!

Hermann Becke, 28.10.2022


Giuseppe Verdi – „La Traviata“ / Wiederaufnahmen am 27.10.2022 Oper Graz

Inszenierung: Peter Konwitschny

Musikalische Leitung: Matteo Beltrami

Grazer Philharmoniker