So faktenreich wie spannend
Andreas J. Hirsch ist Autor, Fotograf und Kurator, und das war schon einmal eine gute Voraussetzung dafür, sein Buch Das Theater an der Wien, Verwandlungen eines Musiktheaters besonders leserfreundlich, weil interessant und abwechslungsreich, zu gestalten. Dazu kommt eine ebenso leserfreundliche Bebilderung mit unzähligen Fotos, seien es Portraits der mit dem Theater verbundenen Persönlichkeiten, Szenenbilder- und -fotos, zu Beginn eine Serie, die den „Glanz“ nach der letzten Restaurierung 2024 wiedergibt, am Schluss die einzelnen Etappen der Sanierung. Das Buch ist chronologisch aufgebaut, gegliedert in Kapitel mit an eine Oper, eine Operette oder ein Musical erinnernden Bezeichnungen von Prélude über einzelne Akte, verknüpft mit baulichen oder das Repertoire betreffenden „Verwandlungen“ bis hin zur siebenten, der Wiedereröffnung im vergangenen Jahr. Abwechslungsreich und übersichtlich zugleich wird das Werk durch unterschiedliche Farben der Seiten für unterschiedliche Themen, so steht Braun für bauliche oder administrative Veränderungen, schwarz für Biographien von Komponisten, Direktoren, Sängern, die im Haus tätig waren und es prägten, Türkis für einzelne Opern und andere Musikwerke, eingestimmt wird man auf jedes neue Kapitel mit einem Zitat, das die behandelte Epoche charakterisiert. So entsteht ein überaus farbiges, dabei faktenreiches, das Interesse des Lesers stets wach haltendes Werk, das man gar nicht mehr aus der Hand legen möchte.
Viele ganz große Namen und Musikgeschichte schreibende Ereignisse sind mit dem Theater an der Wien, die stets hinter der Donau zurückstehen musste, verbunden. Es beginnt mit Schikaneder und der Zauberflöte, das Haus ist Uraufführungstheater für Fidelio, ist an vorderster Front, wenn es um den Siegeszug einer neuen Gattung wie Wiener Operette oder Musical geht, wobei bei letzterem die Volksoper mit Marcel Prawys Bemühungen darum etwas zurückstehen muss. Es geht um das Theater an der Wien als Theater der Wiener Operette, des Musicals, als Festspielbühne und als Verfechter der Moderne mit Strawinsky, Henze, Catan, Previn, Auerbach, Weinberg…
Über die Geschichte des Theaters an der Wien hinaus erfährt der Leser viel weit darüber Hinausgehendes, so über Technik, von der Kerzen- über die Gas- zur elektrischen Beleuchtung, sei es Soziologisches (die Wandlung des Publikums), Architektonisches, aber auch Anekdotisches, so einzelne „Stars“ wie Alexander Girardi betreffend oder den speziellen Aberglauben in Künstlerkreisen, womit nicht Pavarottis Nagelsuche, sondern die Furcht vor einer Aufführung von Hoffmanns Erzählungen nach dem fürchterlichen Brand gemeint ist. Betroffen macht es, wenn man lesen muss, dass nach dem „Anschluss“ Österreichs Bühnenarbeiter ihren ehemaligen Direktor nach Anweisung eines SA-Mannes dazu zwangen, ihnen mit der Zahnbürste die Schuhe zu reinigen und dass wohl auch in Österreich mit der Entnazifizierung einiges schief ging, immer wieder Nachdenkens wert, wie eng Reaktion oder Revolution mit einer Spielplangestaltung zusammenhängen, wie sehr das Theater zum Spiegel der Gesellschaft wird, was der Autor an vielen Stellen, ganz besonders im Zusammenhang mit der Zeit zwischen den Kriegen, dem der Silbernen Operette, nachweist.
Interessant ist, dass nicht nur die in Deutschland und im Zusammenhang mit Lessing bekannte Neuberin tatkräftig ein Theater führte, sondern dass auch das Theater an der Wien zeitweise und nicht ohne Erfolg von Frauen, Josefine Gallmeyer und Marie Geistinger, geleitet wurde, was deren Schicksal zu einem berichtenswerteren macht als das der Sängerin Michiko Tanaka, die sich vom Gatten, dem Kaffee-Meinl eine Operette erbat, die dieser bei Paul Abraham bestellte.
1938 bis 1945 blieb das Theater bis auf Gastspiele geschlossen, danach war die Staatsoper zu Gast, so dass das berühmte Mozartensemble unter vor allem Karl Böhm, aber auch Josef Krips an der Wien seine Stimmen erklingen ließ. Gerade von Opernfreunden betrauert wird der Tod von Otto Schenk, der am Theater an der Wien die damals noch zweiaktige Lulu inszenierte.
Dass das Schlusskapitel den Titel Eine neue Ouvertüre trägt, lässt für die Zukunft des nun der Stadt Wien gehörenden Theaters einiges erhoffen und erwarten, man wünscht ihm, dass es eine nicht durchweg ruhmreiche, aber immer interessante Geschichte weiterschreiben kann. Von der bisherigen liefert Hirschs Buch gleichermaßen jeweils einen Querschnitt durch die Gesamtgesellschaft, wie insgesamt einen Längsschnitt, was das Theater an der Wien betrifft.
Ingrid Wanja, 2. Februar 2025
Andreas J. Hirsch: Das Theater an der Wien. Verwandlungen eines Musiktheaters
Residenz Verlag GmbH
2024 Wien Salzburg
320 Seiten
ISBN 978 3 7017 3618 8