Wiesbaden: „Der fliegende Holländer“, Richard Wagner (zweite Besprechung)

Lieber Opernfreund-Freund,

wenn ein Haus eine seiner erfolgreichsten Produktionen – Intendantenwechsel hin oder her – ab- und mehr oder weniger nahtlos durch eine Neuinszenierung des gleichen Werkes ersetzt, ist die Erwartungshaltung entsprechend hoch. Kann die neue Produktion an Kraft und Erfolg der bisherigen anknüpfen oder zeigt sich, dass ein „alter Zopf“ ohne Not abgeschnitten wurde, um ihn – um im Bild zu bleiben – durch ein billiges Haarteil zu ersetzen? Ähnliche Gedanken schießen mir auf meinem gestrigen Weg nach Wiesbaden durch den Kopf, wo ich mir die erste Neuinszenierung eines Standardwerkes seit der Übernahme der Intendanz durch Dorothea Hartmann und Beate Heine für Sie angeschaut habe. Die Vorgängerversion von Richard Wagners Der fliegende Holländer habe ich in Wiesbaden mehr als einmal besucht und die schlüssige Lesart von Michiel Dijkema hat mich wieder und wieder gefesselt; wie sich die Inszenierung in die Realität der Zuschauer Bahn brach, so wie die sagenumwobene Holländerfigur Sentas Leben intrudiert… wie sich die omnipräsente Bedrohung durch das Unbekannte in einem überdimensionalen Auge zeigte, das lebendig zu sein schien… das waren tief schürfende Eindrücke auch jenseits vordergründiger Effekte, die das Publikum und mich zehn Jahre lang begeistert und immer wieder für ein volles Haus gesorgt haben.

Nach dem Motto „Neue Besen kehren gut“ soll das künftig eine Regiearbeit von Martin G. Berger tun. Ich wage jedoch die Prognose, dass diese Produktion in zehn Jahren nicht mehr auf dem Spielplan des Staatstheaters stehen wird. Aber der Reihe nach…

© Thomas Aurin

Im Wiesbadener Holländer ist es nun so, dass Daland alle sieben Jahre ein Piratenfest veranstaltet, zu dem sich alle verkleiden. 21 Jahre nachdem Senta zusammen mit ihrer Mutter das Fest und gleich das ganze Haus samt Vater verlassen hat, kehrt sie, nun 35 Jahre alt, zurück und wird dort mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Der Abend wird zeigen, dass Senta als Mädchen von ihrem Vater missbraucht wird, der dabei in die Rolle seines Alter Ego, dem fliegenden Holländer, schlüpft. Diese Herleitung ist aber handwerklich von Martin G. Berger so schlecht erzählt, dass es mehr als die halbe Oper lang gedauert haben dürfte, bis der letzte Zuschauer nicht nur den Inzest, sondern auch die Figur des Holländers in dieser Produktion verstanden haben dürfte: er ist die dunkle, die abgründige, die böse Seite eines pädophilen Firmenbosses.

Da helfen auch die mehr oder weniger andeutungsreichen Videoeinspielungen von Vincent Stefan nichts, die allenthalben nach dem Motto „viel hilft viel“ an die Fassade von Dalands Bungalow, das Tor zur Garage – dem Ort des Vergehens – oder sich herabsenkende Segel projiziert werden und die Vergangenheit erzählen sollen (Bühne: Alexandre Corazzola). Die Protagonisten stecken in Alltagskleidung (Kostüme: Esther Bialas), zudem dürften in der benachbarten Fastnachtshochburg Mainz nun die Piratenkostüme ausverkauft sein – das prächtigste schmückt natürlich den Holländer. Senta muss bisweilen das rote Röckchen über ihre Jeans streifen, das sie als 14jährige getragen hat; im starken Schlussbild steht sie dann, nun befreit und ohne Rock, umringt von weiteren Röckchen Tragenden. Vorher hatte sich noch der Bungalow ins Piratenschiff verwandelt…. Das klingt nicht nur alles recht wirr, lieber Opernfreund-Freund, das ist es teilweise auch, Personenführung in den Chorszenen eingeschlossen.

Sicher ist die Geschichte eines Missbrauchsopfers, das nach über 20 Jahren an den Ort des Geschehens zurückkehrt und sich ihrer Vergangenheit und deren Dämonen stellt, erzählenswert. Wenn die Figuren bloß nicht etwas ganz anderes singen würden! Ja, es mag da und dort auch im Holländer einige wenige Sätze geben, die eine solche Lesart stützen. Denen stehen aber so viele entgegen, bei denen das Gezeigte so gar nicht mit dem Text einhergeht, dass ich mich frage, ob Martin G. Berger eigentlich den fliegenden Holländer inszenieren oder nur eine Geschichte erzählen wollte, die einmal erzählt gehört, und dafür per Holzhammer versucht, passend zu machen, was nicht passt.

© Thomas Aurin

Die nicht wirklich überzeugende szenische Seite ist umso bedauerlicher, da sich die Sängerschar mehr als solide zeigt. Der Finne Tommi Hakala ist ein Holländer wie aus dem Bilderbuch, würzt die hohe Ausdruckkraft seines voluminösen Baritons mit einer gehörigen Prise Mystik und überzeugt zudem mit unglaublicher Bühnenpräsenz und außerordentlicher Textverständlichkeit. Letztere geht dem Daland von Young Doo Park hier und da ab, doch der sonore Bass des Koreaners und sein leidenschaftliches Spiel machen das schnell vergessen. Aaron Cawley legt mir den Erik eine Spur zu sehr heldentenoral an, führt seinen klangschönen Tenor mitunter mit recht viel Druck, während der Steuermann in Lukas Schmidt einen feurigen Interpreten findet. Die Senta von Dorothea Herbert ist gemäß Regieansatz eine streitbare Frau, für die die Sopranistin nicht nur die notwendige Power, sondern auch eine Unzahl verschiedener Facetten mitbringt. So leuchtet sie ihre charaktervolle Figur vollends aus, auch wenn sie in der Höhe mitunter zu Schärfe neigt.

Die wahren Stars des Abends jedoch sind Chor und Orchester. Der von Albert Horne betreute, exzellent singende und spielende Chor überzeugt auch bei konfusester Personenregie noch durch dermaßen klaren Gesang, dass das Zuhören eine wahre Freude ist. Im Graben gelingt GMD Leo McFall vorzüglich die Gratwanderung zwischen Wagnerischer Wucht, romantischen Bögen zum Dahinschmelzen und interpretatorischer Tiefe.

© Thomas Aurin

Das Regiekonzept dieses Holländer mag nicht wirklich aufgehen und schon gar nichts für Wagnerpuristen sein, für die es bereits an Frevel grenzt, wenn eine Figur von rechts auf die Bühne kommt, obwohl Richard Wagner „von links“ in seine Regieanweisung geschrieben hat. Wenn es aber um die Musik geht, könnten allein Tommi Hakala, Dorothea Herbert, die Damen und Herren des Chores sowie Leo McFall samt Orchester eine Fahrt in die hessische Landeshauptstadt zu einem lohnenden Ausflug machen.

Ihr
Jochen Rüth

6. Februar 2025


Der fliegende Holländer
Oper von Richard Wagner

Staatstheater Wiesbaden

Premiere: 19. Januar 2025
besuchte Vorstellung: 5. Februar 2025

Regie: Martin G. Berger
Musikalische Leitung: Leo McFall
Hessisches Staatsorchester Wiesbaden

weitere Vorstellungen: 15. und 28. Februar, 27. März, 11. April sowie 11. Mai 2025