Am Vorabend stand das letzte Mal die aktuelle Inszenierung der Salome auf dem Programm des Theaters Plauen-Zwickau. Am Ostersonntag konnte man dann im Landestheater Coburg zum vorerst letzten Mal Puccinis Trittico bewundern. Warum bringt der Rezensent beide Aufführungen bzw. Werke miteinander in Verbindung? Weil im Jahre 1937 im Covent Garden Theatre in London sowohl Salome als auch Gianni Schicchi, also der dritte Teil des Opern-Triptychons, an einem Abend gespielt wurden. Erst also das blutig-dekadente Mordsstück, dann die so ganz anders geartete, gleichfalls geniale Komödie um einen Testamentsfälscher und die durchaus nicht lachenden Erben.
Dass an einem Abend alle drei Teile des Trittico aufgeführt werden – so, wie Puccini es dramaturgisch bewusst plante, war schon zu Lebzeiten des Komponisten die Ausnahme, nicht die Regel. Puccini hat denn auch, nach der nur halb erfolgreichen New Yorker Premiere des Jahres 1918, in der lediglich das Schelmenstück die Kritiker begeisterte, zähneknirschend die Konzession erteilt, die einzelnen Stücke mit anderen Werken zu koppeln – so wie Il Pagliacci und Cavalleria rusticana immer noch oft als Geschwisterpaar erscheinen, obwohl Leoncavallo und Mascagni niemals an eine Koppelung gedacht haben. Selbst an der Bayerischen Staatsoper, an der 1982 immerhin der Tabarro und Gianni Schicchi nacheinander gespielt wurden, dauerte es Jahrzehnte, nämlich knapp 100 Jahre seit der Uraufführung, bis das integrale Werk erstaufgeführt werden konnte. „O mio babbino caro“ ist, was die meisten „O mio babbino caro“-Kenner nicht wissen (das ist eine Feststellung, kein Vorwurf), das einzige wirklich bekannte Stück aus dem Zyklus geworden; sein vom Komponisten zweifellos intendiert Schlager-Charakter wird in der Inszenierung ironisch betont, ohne dass man das Gefühl hätte, dass es einer Verkasperung unterliegt.

In Coburg hoben sie nun, erstmals am Ort, das gesamte Trittico aus der Taufe, eine Tat, die der regieführende Intendant Neil Barry Moss bei seiner kurzen freundlichen Sonntagsrede vor dem Vorhang als außergewöhnlich bezeichnet, weil es sich, und es stimmt ja, um einen dem breiten Publikum eher unbekannten Puccini handele. Schade nur, dass am Ostersonntag so wenige Coburger Opernfreunde das Angebot wahrnahmen, Puccinis geniale Trilogie live zu erleben. Sie hätten sich ebenso rühren lassen können wie die Darstellerin der Schwester Angelica, die noch nach dem Schlussakkord des ihr gewidmeten „Rührstücks“ (gewiss: es ist eins) tief bewegt war – und wie auch nicht? Steht der zweite Teil vielleicht noch bei den Opernfreunden im Verdacht, „Kitsch“ zu sein, wobei leicht vergessen wird, dass „Kitsch“ 1. eine authentische Kategorie der modernen Kunst, 2. gut gemeint ist (wie Bertolt Brecht sagte) und 3. immer im Auge des Betrachters liegt, nirgendwo sonst – steht Suor Angelica also im Verdacht, alles andere als Kunst zu sein, so hat auch die Coburger Aufführung bewiesen, dass diese Vermutung falsch ist. Puccini-Freunde muss man sowieso nicht davon überzeugen, dass das Stück über die unglückliche Nonne, die sich das Leben nimmt und schließlich im Beisein der Madonna ihren verstorbenen kleinen Sohn visioniert, Puccini at its best ist. Am Abend war jedenfalls nicht allein der Rezensent, bekanntermaßen eine Kitschkuh, vom Finale der Suor Angelica tief gerührt… So wurde es vom Komponisten, der sein eigener Dramaturg war, geplant, und so ist es gut – was indes nicht heißt, die Verhältnisse, die der Librettist Giovacchino Forzano und der Musikdramatiker Puccini beschrieben, so zu nehmen, wie sie sind. Sie verhehlten nicht, dass der suizidale Ausweg, in dem die „erlösende“ Schlussvision erst möglich wurde, das Produkt einer kalten und herzlosen weltlichen Gesellschaft ist, über die man nicht rechten muss. Die Zia Principessa, also die Tante der im Kloster eingekerkerten Angelica, bleibt auch in Coburg eine schwarze Fürstin. Kora Pavelić singt und spielt sie mit grauenhafter Deutlichkeit, die Regie gab ihr beispielsweise die so überdeutliche wie effektvolle Geste ein, während der Verkündigung des Todes des Sohns der Angelica ein Stück Torte in sich hineinzufressen. Das scheint platt – und zugleich theatralisch gut. Dagegen ist das Kollektiv der Nonnen eine zwar von gelind strengen Wächterinnen domptierte, aber menschenfreundliche Gruppe, vielleicht die liebenswürdigste Nonnenschar, die je vor The Sound of Music auf einer musikalischen Bühne stand. In Coburg ist es der von Alice Lapasin-Zorzit hervorragend einstudierte Frauenchor des Chors des Landestheaters, der in größter stimmlicher Güte, also vor Allem mit Zartheit, die Zuhörer begeistert.
Suor Angelica aber ist Maritina Tampakopoulos. Gesegnet mit einer riesigen fülligen Sopranstimme, die die akustischen Grenzen des Globe austestet und, bei aller „modernen“ Inszenierung, die Figur durchaus traditionell ernst nimmt, so wie überhaupt das Spiel der realistisch gewandeten Akteure (Georgetta gar mit dem typischen, von Hannah Rosa Oellinger nachgeschaffenen Entenbürzel, zu Deutsch: einer Tournure von anno 1900) innerhalb eines abstrahierten Raums dem Spieltrieb und der unironischen Dramatik genügend Futter gibt. Um die drei Teile des Triptychons miteinander zu verbinden, hat der Bühnenbildner Manfred Rainer eine Reihe von Großmodellen bekannter florentinischer und Pariser Bauten entworfen, die, oft verschoben, vom ersten bis zum letzten Stück vermitteln, so dass wir im Paris-um-1900-Bild auf den Ponte Vecchio und im Florenz des Mittelalters auf Notre Dame schauen, in das sich der Titelheld bequem hineinlegen kann. Das ist zeitlich paradox – und möglich, weil es Puccini weniger um die historische Genauigkeit als um die Ausstellung menschlich-allzu menschlicher Charaktere ging.

Zweites Bindeglied sind die Nonnen: witzigerweise, und auch das geht, sind die Midinetten, also die kleinen Näherinnen des fin de siécle aus dem ersten Teil, weiße Schwestern, die anschließend den Mittelakt ausfüllen und im Gianni Schicchi als Teilerben des Donatischen Vermögens genannt werden, wofür man freilich den Übertiteltext verändert hat. Kein Problem, es betrifft nicht das Wesentliche – und schafft eine reizvolle Verbindung zu den Vorderakten. Hier ist Maritina Tampakopoulos bereits als Georgetta, also die Frau des Wirtschaftskapitäns Michele, aktiv, die sich in eine fatale Liebesgeschichte mit Luigi begibt. Der heisst in Coburg Gustavo López Manzitti. Wie seine Partnerin singt er gelegentlich so lautstark, als stünde er auf der Bühne der Met. Als Coburger Heldentenor vom Hause gibt er dem verzweifelten Nebenbuhler allen möglichen Leidensausdruck, als habe Puccini den Ausbruch „Hai ben ragione“ für seine vom Leben und von den Jahren gezeichnete Kehle geschrieben. Das verzweifelte Freiheitsverlangen der Protagonisten, die in Paris vor Anker gehen, aber nicht in Paris leben, wird auch ohne aufwendige Dekorationen klargemacht. Verzweiflung entsteht nicht zuletzt durch Verbindungspunkt 3: Das Kind. Es tritt sowohl im Tabarro als auch in Suor Angelica und schließlich in Gianni Schicchi auf: als traurige Erinnerung, mystische Hoffnung und jüngster Erbe – in Suor Angelica hat es sich vervielfacht, denn die Szene spielt in Coburg nicht in einem Frauenkloster, sondern in einem Kinderkrankenhaus, in dem die Nonnen als kirchliche Vertreterinnen Dienst tun. Der Abrieb zum Text (eine junge, von einer Wespe gestochene Chiara bleibt eine junge Chiara) bleibt gering, die Aussage deutlich: während das Kollektiv seinen Dienst an den Leidenden tut, zerbricht die aufs Individuelle beharrende Angelica an den Widersprüchen, die ihr „die Familie“ bereitet. Zuletzt wird, während die Sterbende eines einzelnen Kindes ansichtig wird und stirbt (Philipp Müller spielt alle drei solistischen Kinder des Trittico), am Bett eines kleinen Krebspatienten sein Geburtstag gefeiert. Leben und Tod sind eben auch im Krankenhaus gleichzeitig, so wie das Trittico den nichts als lebensnahen Zusammenhang von Tragödie, sentimentalem Stück und Komödie auf die Bühne bringt.
Die Dame, die neben dem Rezensenten saß, meinte nach dem zweiten Teil, dass sie Ähnliches heute abend nicht mehr ertragen würde, so stark sei der Eindruck gewesen. Keine Angst, meinte der Kritiker, jetzt würde es sehr komisch werden, denn nach der auch in Coburg erschütternden Tragedia lacerante, der tränenseligen Tragödie also, muss es, wie auch immer, ganz anders werden und klingen. Das Thema wird zwar nach wie vor umkreist, der Tod ist auch in Gianni Schicchi allgegenwärtig, aber nun wird es grotesk umstellt. Moss betont bei der blitzschnellen Komödie die Farce, die, kostümlich charakterisiert, Figuren vom Mittelalter bis zur Neuzeit und so etwas Groteskes wie Suspensorien Taschen aufbietet, in denen der Herr von Welt Einiges verstauen kann: Zigaretten, Nüßchen, Handys, so was eben. Und Erbschleicher gibt es ja in jeder Epoche. Daniel Carison ist als Schicchi ein äußerst wendiger Kerl mit einer Stimme, die sich auf jeden Witz einlässt, also eine Idealbesetzung. Die schiache Verwandtschaft ist eine sehr lustige; selbst die beiden starcrossed lovers (O-Ton „Shakespeare“) haben Teil am Spaß, so dass Lauretta – eine letzte, großkleine Partie, mit der die Hauptsopranistin des Abends ihren Charme und ihre Stärke beweisen kann – ihre Arietta wie eine Shownummer anlegen kann. Die schwarze Fürstin, also Kora Pavelić, wurde zur Zita, der Dominanten unter den Frauen des Donati-Clans – die sich am Ende lieber mit dem gewitzten Betrüger zusammentut als auf so etwas Schönes wie ein Stadthaus in Florenz zu verzichten.
So endet der Abend in aller Versöhnlichkeit mit den Zuständen, die zuvor noch blutig besungen wurden, und alles gehört zusammen: so wie die drei Männer ins Frauenstück gehören, wo sie, als Karikaturen alter Weiber, inmitten des sentimentalen Stücks kurzfristig zeigen, dass es auch komisch sein kann. Und so wird es kurz ernst (aber nicht zu ernst), wenn Rinuccio jene Migranten preist, die vom Land kamen und Florenz groß gemacht haben. Der Übertiteltext verkürzt Forzanos Zeilen, in denen vom Baumeister Arnolfo, vom Maler Giotto und von den Kaufleuten der Medici die Rede ist, doch er spitzt die Aussage sinnvoll zu: Es waren die Einwanderer, die zum Wohlergehen der Stadt und der Gesellschaft beigetragen haben, man braucht sie.

Kein Zufall, dass Puccini das florentinische Städte- und Menschenlob mit einer besonderen Emphase versehen hat. In Coburg geht sie nicht verloren, der Rinuccio heisst hier Jaeil Kim, im ersten Teil des Trittico war der gute Tenor bereits der blinde Leierkastenmann und Liederverkäufer, den die weiße Schwester durch den Saal des Globe führte. Sonst noch zu loben wäre Lars Fosser als rauer Michele, Emily Lorini als Frugola, Joanna Stark als Suor Genovieffa und Nella, der 15köpfige, live zugespielte und von Marius Popp einstudierte Kinderchor sowie das gesamte Ensemble. Last not least muss das Philharmonische Orchester Landestheater Coburg genannt werden, das unter Daniel Carter einen feinen, lupenreinen und, wo nötig, dynamisch sehr kraftvollen Puccini herausspielt.
Der Komponist der Salome mochte seinen ebenbürtigen Kollegen nicht besonders, aber diese Aufführung hätte ihm, zumindest musikalisch, vermutlich auch gefallen.
Frank Piontek, 21. April 2025
Il Trittico
Giacomo Puccini
Landestheater Coburg (im Globe)
Premiere: 5. Oktober 2024
Besuchte Vorstellung: 20. April 2025
Regie: Neil Barry Moss
Dirigat: Daniel Carter
Orchester des Landestheaters Coburg