Frankfurt: „Die Zauberin“, Peter I. Tschaikowsky

Ein Jahr nach der spektakulär gelungenen Produktion der Rimski-Korsakow-Rarität „Die Nacht vor Weihnachten“ (von welcher übrigens eine vorzügliche DVD-Produktion erhältlich ist) landet die Oper Frankfurt wieder einen Volltreffer auf dem Gebiet der unbekannten russischen Oper, dieses Mal mit Tschaikowskys „Zauberin“. Es greift wieder eines ins andere: Mit dem glänzend aufgelegten Orchester entfaltet Valentin Uryupin den staunenswerten Farbenreichtum der Partitur, auf der Bühne zeigt Vasily Barkhatov mit fesselnder Erzähltechnik einen spielfilmreifen Thriller, und eine erstklassige Sängerbesetzung singt und spielt mit unter die Haut gehender Intensität. Am Ende fragt man sich, warum dieses Meisterwerk bislang außerhalb Rußlands derart ignoriert wird.

Sicher, die Handlung wirkt auf den ersten Blick wie eine Ansammlung von Opernklischees und hat ein reichlich krudes Ende: In einem Wald am Rande einer russischen Provinzstadt im 15. Jahrhundert betreibt Nastasia eine Gastwirtschaft. Sie ist die titelgebende „Zauberin“, weil sie insbesondere ihre männlichen Gäste bezaubert. Der Obrigkeit ist die Schenke als Ort der freien Rede mit Kritik an Staat und Kirche, des Spiels und der Freizügigkeit ein Dorn im Auge. Der Fürst tritt auf, will dem Treiben ein Ende bereiten, verfällt aber der attraktiven „Zauberin“, mit der er eine Affäre beginnt. Die Fürstin erfährt davon, macht ihm eine Eifersuchtsszene und sinnt auf den Tod der Rivalin. Ihr Sohn soll die Rachetat ausführen. Dieser verliebt sich seinerseits in die Schöne. Gemeinsam wollen sie fliehen. Der Fürstin gelingt es jedoch, Nastasia zu vergiften. Sie stirbt in den Armen des Prinzen. Dieser wiederum wird in einem Akt der Raserei vom Fürsten getötet, welcher schließlich dem Wahnsinn verfällt.

Asmik Grigorian (Titelpartie) / © Barbara Aumüller

Liebe in einer Dreieckskonstellation mit Eifersucht, Mord und Wahnsinn – der Stoff bietet die Standards eines Opernreißers des 19. Jahrhunderts. Was das Libretto auszeichnet und was für Tschaikowsky wohl den besonderen Reiz ausgemacht hat, ist die Spiegelung seinerzeit aktueller politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse des zaristischen Rußlands in einer sich historisch gebenden Geschichte. Deutlich wird Kritik an Kirche und autokratischer Willkürherrschaft geübt, werden staatliche Repression und gesellschaftliche Zwänge mit dem von der Titelheldin repräsentierten Geist von Freiheit und Unabhängigkeit kontrastiert. Barkhatov verlegt die Handlung in die Gegenwart. Daß dabei keine platte Aktualisierung und wohlfeile Politisierung herauskommt, sondern der Kern des Werkes freigelegt wird, zeigt die Meisterschaft des jungen Regisseurs. Er ist zuallererst ein begnadeter Erzähler, der keine Thesen auf die Bühne stellt, sondern Menschen aus Fleisch und Blut. Zur Ouvertüre wird auf den Bühnenvorhang das Vorleben der Titelfigur als Fotostory projiziert. Das verleiht ihrem Charakter Tiefenschärfe. Im weiteren Verlauf wird das Geschehen immer wieder filmschnittartig mit Momentaufnahmen kontrastiert, für die der Regisseur hinter blitzschnell fallendem und sich sogleich wieder öffnendem Vorhang mit der Frankfurter Drehbühne Szenenwechsel arrangiert. Selbst da, wo Barkhatov in seiner Aktualisierung Figuren umdeutet, geschieht das derart zwingend, daß es ohne Kenntnis des Originals gar nicht auffallen würde. So wird die Figur des Mamyrow vom Schreiber des Fürsten zum orthodoxen Priester umgedeutet und wesentlich aufgewertet. An dieser Figur demonstriert die Regie den unheilvollen Einfluß einer reaktionär erstarrten religiösen Orthodoxie auf Staat und Gesellschaft.

Folklore mit Hintersinn: Chor und Tänzer in einer Ensembleszene / © Barbara Aumüller

Christian Schmidt hat dazu ein Bühnenbild entworfen, das vom Kontrast zweier Räume lebt. Die Gaststätte der Titelfigur zeigt er als stylische Galerie mit Wänden aus Sichtbeton. Dem wird die Oligarchen-Villa des Fürsten mit Säulen und protzig-edlem Mobiliar gegenübergestellt. Ausstattungsdetails charakterisieren die Geisteshaltung der jeweiligen Bewohner, so eine überlebensgroße Wolfsskulptur in der Galerie, welche man mit Wildheit und Unangepaßtheit assoziieren kann, und eine Vitrine mit Ikonen in der Fürstenwohnung als Symbol traditionalistischer Religiosität. So wie die Galerie die Sphäre der „Zauberin“ ist, ist der religiös imprägnierte Oligarchen-Schick die Sphäre der Fürsten. Durch die geschickte Gegenschnitttechnik der Regie erlebt der Zuschauer die mittleren beiden Akte als Fernduell zweier starker Frauen. Die beiden männlichen Protagonisten, der Fürst und sein Sohn, sind zwischen beiden Sphären hin- und hergerissen. Für den vierten und letzten Akt hat der Regisseur sich vorgenommen, die bis dahin gezeigte Welt „durch einen dunklen Spiegel“ zu sehen. Das gelingt ihm, indem er die beiden bis dahin streng getrennten Sphären auflöst, Einrichtungsgegenstände der Galerie auf einmal in der Oligarchen-Villa auftauchen und umgekehrt, und die beiden Räume auf der Bühne nun als Kulissen kenntlich gemacht werden, zwischen denen die Protagonisten umherirren. Lichtregie (Olaf Winter) und Projektionen (Videos von Christian Borchers) erzeugen eine surreale Atmosphäre, in der die szenischen Ereignisse im Einklang mit der Musik bis zum Siedepunkt getrieben werden und der Gewaltexzeß am Schluß in seinem überhitzten Irrsinn etwas Zwangsläufiges erhält.

Asmik Grigorian (Nastasja; rechts am Wolfskopf) und Ensemble / © Barbara Aumüller

In der Titelrolle zeigt Asmik Grigorian, warum sie derzeit eine der international begehrtesten Sängerinnen für eine große Bandbreite von Rollen im lyrischen bis dramatischen Fach ist: Es ist nicht nur ihre klare und frische, dabei durchaus zu kraftvoller Expansion fähige Stimme, sondern eine Verbindung von Musik und Darstellungskunst, die zu zwingenden und unmittelbar berührenden Rollenporträts führen. Die entsprechenden Publikumserwartungen, die bereits vor der Premiere für nahezu ausverkaufte Folgevorstellungen gesorgt haben, werden nicht enttäuscht. Von gleichem musikalischem Rang ist Claudia Mahnkes Fürstin, die mit ihrem dunkler getönten Mezzo alle Gefühlsregungen dieser eifersüchtigen Frau durchmißt. Das Fernduell der beiden Diven findet auf Augenhöhe statt. Daß Iain McNeil in der männlichen Hauptpartie des Fürsten mit seiner Ensemblekollegin Mahnke und dem Stargast Grigorian mithalten kann, ist eine kleine Sensation, die sich aber bereits in der letzten Spielzeit mit dem viel beachteten Debüt des jungen Sängers als Dallapiccolas Ulisse angekündigt hatte. Sein markanter Bariton verströmt sich erneut über alle Register bis hin zu saftigen, geradezu tenoralen Höhen. Auch bei ihm ist wie bei den weiblichen Hauptpartien eine stupende darstellerische Souveränität zu bewundern. Von einer erkältungsbedingten Indisposition, derentwegen er sich hatte ansagen lassen, ist nichts zu spüren. Kraftvoll und doch differenziert bewältigt er diese große Partie und hat in seiner Wahnsinnsszene am Schluß sogar noch Reserven für eine Steigerung.

Szenen einer zerrütteten Ehe: Iain MacNeil (Der Fürst) und Claudia Mahnke (Die Fürstin) /
© Barbara Aumüller

Für jeden dieser drei Sänger würde sich der Besuch der Produktion bereits lohnen. Zusammen bilden sie ein kaum überbietbares Spitzentrio. Eine ausgezeichnete Ergänzung bietet Frederic Jost in der aufgewerteten Rolle des „Popen“ Mamyrow, welche die Regie zudem für den letzten Akt noch mit dem Zauberer Kudma zusammengelegt hat. Zu hören ist ein frischer Baß mit sonorer Tiefe und wenn nötig angemessener Schwärze. Daß Alexander Mikhailov in der Rolle des Prinzen Juri mit seinem Spinto-Tenor mitunter gerade in der Mittellage ein wenig halsig und eng klingt, paßt zur Auffassung der Regie von dieser Rolle, welche ihn als unreifes, verwöhntes Muttersöhnchen zeichnet. Die zahlreichen kleineren Rollen sind wie üblich vorzüglich aus dem hauseigenen Ensemble besetzt. Der gerade im ersten Akt stark geforderte Chor wird seinem Ruf als „Opernchor des Jahres“ vollauf gerecht.

Der Schlußapplaus nimmt Orkanstärke an. Wer nun die Lust verspürt, die Opernrarität in dieser begeisternden Produktion zu erleben, muß auf Restkarten spekulieren: Sämtliche Folgevorstellungen sind ausverkauft.

Michael Demel, 9. Dezember 2022


Die Zauberin
Peter I. Tschaikowsky

Oper Frankfurt

Bericht von der Premiere am 4. Dezember 2022

Inszenierung: Vasily Barkhatov
Musikalische Leitung: Valentin Uryupin
Frankfurter Opern- und Museumsorchester

Trailer