Frankfurt: „Die Meistersinger von Nürnberg“, Richard Wagner

Als aus einem Pressegespräch die Kunde drang, Regisseur Johannes Erath setze bei seiner Neuinszenierung von Wagners Meistersingern auf eine „Traumlogik“, war Skepsis angesagt. „Traumlogik“ wird allzu oft vorgeschützt, wo es der Regie nicht gelingt, ihre disparaten szenischen Ideen in einen flüssigen, bruchlosen Ablauf zu bringen und dabei einen roten Faden erkennen zu lassen. Am Ende ist es denn auch bei dieser Premiere so gekommen. Es gibt einige unterhaltsame, einige klug und ebenso anspielungs- wie beziehungsreich durchdachte Szenen, aber auch allzu schlichte Lösungen für heikle Probleme. Letzteres betrifft die berüchtigte Prügelfuge am Ende des zweiten Aufzugs und die noch viel berüchtigtere Schlußansprache von Hans Sachs auf der Festwiese. Die schwierig zu choreographierende Massenschlägerei findet nicht statt. Es schlägt lediglich – aber immerhin librettogerecht – der Lehrbube David auf seinen vermeintlichen Nebenbuhler um die Gunst der Magdalene, den Stadtschreiber Beckmesser, ein. Das sich eigentlich prügeln sollende Volk von Nürnberg tritt dazu lediglich in geschlossener Formation an die Rampe und bietet die wechselseitigen Beschimpfungen gleichsam in Oratoriumsform dar. Das erspart der Szene manche andernorts zu sehende Peinlichkeit. Daß eine lange Rezeptionsgeschichte hier subkutan einen antisemitischen Pogrom erkennt, bleibt vollständig außen vor. Von der deutschtümelnden Schlußansprache distanziert sich die Inszenierung mit maximaler Beiläufigkeit: Der historisch belastete Text wird von Hans Sachs von einem Sprechzettel abgelesen, während sich hinter ihm der Vorhang schließt. Als der Vorhang die Sicht auf die Bühne wieder frei gibt, wird vom Schnürboden in Leuchtschrift das Wort „Germania“ heruntergelassen, dessen Buchstaben zunächst ein wenig vor sich hinflackern, um nach dem Erlöschen der ersten Silbe nur noch „Mania“ stehen zu lassen.

Nicholas Brownlee (Hans Sachs; in hellgrünem Anzug) mit den Lehrbuben sowie den Meistern / (c) Monika Rittershaus

Der erste Aufzug hatte noch große Erwartungen geweckt. Zunächst wird die Bühne von einer turmhohen Schiefertafel bestimmt, die kreuz und quer übersät ist von Kreidestrichen des Merkers. Am Ende des Vorspiels wird die Tafel transparent und legt den Blick auf das halbrunde, hallenartige Einheitsbühnenbild (Kaspar Glarner) frei, dessen dunkle, schieferartige Wände ebenfalls übersät sind mit Kreidezeichen, die ein undurchdringliches Gewirr von Zahlen, Formeln und Chiffren zeigen – Symbole für die in überkomplexen und unverständlichen Regeln erstarrte Meistersingertradition. Alt-Nürnberg ist lediglich über zwei ikonische Bilder des Hans-Sachs-Zeitgenossen Albrecht Dürer präsent: Am rechten Bühnenrand sitzt eine den berühmten Hasen nachbildende Plastik, und zum eröffnenden Kirchenchoral werden die „betenden Hände“ auf die Kulisse projiziert. Die Meister erscheinen in bunt karierten Anzügen auf hochsitzartigen, rollenden Stühlen. Ihre Versammlung wird vom Regisseur mit milder Ironie gezeichnet. Leicht und locker gelingt dieser erste Aufzug, in dem scheinbar einige Fährten gelegt werden, auf deren Weiterverfolgung man nach der Pause gespannt ist. Mit dieser Erwartung ist man aber auf dem Holzweg. Vielmehr wechselt jetzt das Sujet. Gezeigt werden varieté-artige Szenen, in denen die Meister im Frack wie Balletttänzer in einer Revue erscheinen. Wo im Libretto die verkleidete Magdalene zu Beckmessers Ständchen im Fenster posiert, wird nun eine Skulptur herabgelassen, welche offensichtlich den Beinen der Dietrich aus dem Film „Der blaue Engel“ nachempfunden ist. Dazwischen entspinnt sich die eigentliche Handlung mit eher flüchtigen Assoziationen. Hier darf sich dann die angekündigte „Traumlogik“ austoben. Es ist wohl Beckmessers Alptraum, den wir hier präsentiert bekommen. Im letzten Aufzug hat die Regie dann ihr Pulver bereits weitgehend verschossen, knüpft kaum an die Bildideen der vorangegangenen Aufzüge an und findet wenige neue. Daß der zuvor verprügelte Beckmesser nun im Rollstuhl hereingefahren kommt, ist noch einigermaßen plausibel. Daß aber die Meister ebenfalls zunächst in Rollstühlen auftreten, erschließt sich nicht. Zuletzt hatte man sie unversehrt im Frack und unbeteiligt an der Schlägerei gesehen.

Nicholas Brownlee (Hans Sachs) und Michael Nagy (Sixtus Beckmesser) / (c) Monika Ritterhaus

Mit dem Szenenwechsel zur Festwiese und dem dortigen Jahrmarkttreiben schließlich kann die Regie nichts anfangen. Während das Orchester munter tönt und wirbelt, zeigen Videoprojektionen (Bibi Abel) undeutliche Bildbruchstücke und Erinnerungsfetzen. Hans Sachs ist dazu ermattet auf einer Matratze niedergesunken und wälzt sich im unruhigen Schlaf. Wir befinden uns jetzt also in seinem Traum. Zum Aufzug der Meister auf der Festwiese hat die Regie einen letzten Einfall, der so unerwartet, unvorbereitet und folgenlos präsentiert wird, daß er selbst unter der Prämisse einer „Traumlogik“ wie ein Fremdkörper wirkt: Es ziehen nicht die Nürnberger Meister auf, sondern „Meistersinger“ der Popkultur des vergangenen Jahrhunderts. Die Chormitglieder erscheinen kostümiert als Beatles, Elvis Presley, Michael Jackson, Luciano Pavarotti, Bandmitglieder der Gruppe Kiss und so weiter. Es ist eines dieser Wimmelbilder zum heiteren Prominentenraten, die man für eine Inszenierungsmasche von Keith Warner gehalten hatte (in Frankfurt jetzt wieder bei „Hänsel und Gretel“ zu sehen, davor im „Falstaff“), und auf die Johannes Erath offenbar zurückgreift, um doch noch ein wenig Farbe auf die Festwiese zu bringen, für die sich das dunkle Einheitsbühnenbild als recht unpassend finsterer Ort erweist.

Am Ende bleibt die Frage, was denn das Produktionsteam mit seiner „Traumlogik“ zeigen wollte. Wenn das alles nicht von dem handelt, wovon auf der Oberfläche gesungen wird, wovon handelt es dann? Was liegt unter der Oberfläche? Die Inszenierung bleibt eine Antwort darauf schuldig. Daß Beckmesser und Hans Sachs schlecht geträumt haben, kann ja nicht alles gewesen sein.

Gut herausgearbeitet sind dabei immerhin die Beziehungen der Hauptfiguren zueinander. Gleich zu Beginn werden Sachs und Beckmesser als gleichsam spiegelbildlich aufeinander bezogen präsentiert. Der joviale Schuster und der manisch-nervöse Stadtschreiber arbeiten sich aneinander ab, bedingen aber auch einander. So taucht am Ende der gescheiterte Beckmesser auf der Festwiese nicht ab, sondern zieht den Bühnenvorhang zu und bleibt an Sachsens Seite, während dieser seine Schlußansprache vorträgt.

Nicholas Brownlee (Hans Sachs) und Michael Nagy (Sixtus Beckmesser) / (c) Monika Rittershaus

Ungewöhnlich deutlich wird im zweiten Aufzug herausgearbeitet, wie sich Eva ohne jede Zurückhaltung an Sachs heranschmeißt und wie gerne Sachs darauf eingeht. Bei den üblichen Darbietungen von Wagners Meistersingern fragt man sich ja immer, wieso ein deutlich in die Jahre gekommener Hans Sachs sich überhaupt je Chancen bei der blutjungen Eva ausrechnen konnte. In der aktuellen Frankfurter Premiere stellt sich die Frage erst gar nicht, wenn der junge Baßbariton Nicholas Brownlee, Jahrgang 1989, als dichtender Schuster in Konkurrenz zum fast gleichalten AJ Glueckert als Ritter Stolzing Magdalena Hinterdoblers Eva den Hof macht. Und auch, daß Michael Nagy, Jahrgang 1976, in der Partie des Beckmesser sich Chancen bei der Tochter des Goldschmieds ausrechnet, erscheint rein optisch gar nicht mal so abwegig. Alle vier Protagonisten debütieren in ihren Partien. Das alleine verleiht der Frankfurter Neuproduktion bereits eine ungewöhnliche Frische.

Nicholas Bownlee gehört zu den Ensemblemitgliedern, auf die Intendant Bernd Loebe besonders stolz ist. Er verfügt über eine kernige und machtvolle Stimme, die in dieser gewaltigen Partie bis zum Ende keinerlei Ermüdungserscheinungen zeigt. Sie ist in allen Registern gut durchgeformt, beeindruckt mit einer satten und sonoren Tiefe ebenso wie mit unangestrengten Höhen. Bei so viel Saft und Kraft hätte man sich gelegentlich eine stärkere dynamische Ausdifferenzierung gewünscht. Die derben Schusterlieder mit dem lustvoll geschmetterten „Jerum“ liegen Brownlee jedenfalls besser als die nachdenklichen Töne im Flieder- und im Wahnmonolog. Bei Michael Nagy besteht nicht eine Sekunde lang die Gefahr, daß der Beckmesser stimmlich zur antisemitischen Karikatur verformt wird, als welche diese Partie traditionell gelesen wird. Noch immer wird Nagy anderenorts als Kavaliersbariton in den einschlägigen Mozart-Partien besetzt, mit denen er sich in seiner Frankfurter Ensemblezeit etablieren konnte. Seitdem aber ist seine Stimme kräftiger, auch metallischer geworden. An der Wiener Staatsoper wird er sich im kommenden Jahr als Alberich im Ring des Nibelungen versuchen. Den Wolfram in Wagners Tannhäuser hat er längst im Repertoire. Sein Ständchen im zweiten Aufzug und das mißratene Preislied auf der Festwiese trägt er mit einer Ernsthaftigkeit und Gesangskultur vor, die auch einem Schubert-Lied angemessen wäre. In den vielen verbalen Scharmützeln mit Sachs kann er in punkto Stimmfestigkeit und Volumen gut mithalten. Mit differenzierter Textgestaltung bei vorzüglicher Artikulation entwirft er ein vielschichtiges Bild seiner Figur, für die man nun mitunter sogar ungewohnte Sympathie empfinden kann. Magdalena Hinterdobler präsentiert sich mit vollem, frischem Sopran als erstaunlich selbstbewußte Eva. Daß sie ab der nächsten Spielzeit zum festen Ensemble der Oper Frankfurt gehören wird, ist eine verheißungsvolle Nachricht. AJ Glueckert hat sich in den vergangenen Spielzeiten allmählich an Wagners fordernde Tenorpartien herangetastet. Schon früh hatte er den Erik aus dem Fliegenden Holländer im Repertoire. Vor einem Jahr folgte dann der Lohengrin, zunächst bei den Festspielen in Erl, dann auch an seinem Frankfurter Stammhaus. Die Stimme hat eine breite Anlage, die über genügend lyrischen Schmelz für den Lionel in Flotows Martha verfügt und als Flamand in Strauss‘ Capriccio eine Idealbesetzung ist, aber auch genügend Metall und strahlende Höhen für den Bacchus in Ariadne auf Naxos vorzuweisen hat. Das sind gute Voraussetzungen für den schwärmerischen Ritter Stolzing in den Meistersingern. Der Einsatz als Lohengrin hat zuletzt aber auch offenbart, daß Glueckert mit seinen Kräften haushalten muß. Er geht den Stolzing daher erkennbar vorsichtig an, hält sich im Volumen immer wieder zurück, so daß in Dialogen mit Brownlees volltönendem Sachs oft ein deutliches Dynamikgefälle zwischen den Protagonisten entsteht. Durch den ökonomischen Umgang mit seinen Ressourcen gelingt dann auf der Festwiese das Preislied mit sicherer Stimme und der nötigen Emphase.

Magdalena Hinterdobler (Eva; im Brautkleid) und Claudia Mahnke (Magdalene; hinten in der Bildmitte) sowie die Meister / (c) Monika Rittershaus

Das Wagnis, alle vier Hauptpartien mit jungen Rollendebütanten zu besetzen, hat sich ausgezahlt. Die Frische des Gesangs und die große Spielfreude prägen diese Premiere. Ideal ergänzt wird das Quartett durch Michael Porters kecken David, dem es gelingt, die länglichen Ausführungen zu den Standards des Meistergesangs im ersten Aufzug durch kluge Gestaltung zu einer großen Nummer zu machen. Kaum zu glauben, daß Andreas Bauer Kanabas seinen ersten Pogner singt, wo doch sein sonorer und Autorität verströmender Baß wie geschaffen für diese Partie ist. Claudia Mahnke ist an diesem Abend die einzige Sängerin einer tragenden Partie, die bereits über Rollenerfahrung verfügt. Die Magdalene hat sie bereits an der Bayerischen Staatsoper und der New Yorker MET gesungen. An ihrem Stammhaus zeigt sie an diesem Abend ihren Ausnahmerang, gewinnt ihrem üppigen Mezzosopran erstaunlich lichte Töne ab und fügt sich darstellerisch lebendig in das Schaulaufen der Rollendebütanten ein. Daß die übrigen Partien aus dem hauseigenen Ensemble ausgezeichnet besetzt sind, war zu erwarten. Einen vorzüglichen Eindruck hinterläßt zudem die Gruppe der Lehrbuben. Der Chor schließlich erweist sich mit vollem, homogenem Klangbild als der kürzlich erhaltenen Auszeichnung als „Opernchor des Jahres“ würdig.

Im Orchestergraben zieht Sebastian Weigle in seiner letzten Spielzeit als Generalmusikdirektor die Bilanz des mit dem Orchester über Jahre entwickelten Frankfurter Wagner-Klanges. Im Vorspiel werden dessen Vorzüge präsentiert: Das Klangbild ist gut durchhörbar und ausdifferenziert, dabei aber zugleich volltönend und homogen. Die Streicher spielen mit klarem Ton, die farbigen Holzbläser stellen sich ihnen gleichrangig zur Seite. Der Hörnerklang ist warm und leuchtend, das übrige Blech dominiert nicht, sondern mischt sich gut unter den kunstvoll gewobenen Klangteppich. Weigle leistet sich mitunter eher langsame Tempi, die aber durch die Binnendifferenzierung und plastische Ausgestaltung von Details niemals schleppend wirken. Völlig zu Recht bittet der Dirigent zum Schlußapplaus seine Musiker auf die Bühne, wo sie sich einem dankbaren Publikum präsentieren.

Musikalisch stark, mit einer ungewöhnlich jungen Besetzung der Hauptpartien und überzeugenden Rollendebüts präsentiert sich diese Produktion, deren oft kurzweilige szenische Umsetzung vom darstellerischen Engagement der Protagonisten getragen wird. Für die Musiker gab es am Ende starken Beifall. Das Regieteam traf auf gemischte Zustimmung.

Michael Demel, 8. November 2022


Richard Wagner: „Die Meistersinger von Nürnberg“

Oper Frankfurt

Bericht von der Premiere am 6. November 2022

Inszenierung: Johannes Erath
Musikalische Leitung: Sebastian Weigle
Frankfurter Opern- und Museumsorchester

Trailer