St. Gallen: „Elektra“, Richard Strauss

„Sie geifert, gellt, speit, tobt, taumelt und würgt“, schreibt Ernst Krause über die Musik zu Elektra in seinem Buch „Richard Strauss, Gestalt und Werk“. Dieser träfe Verbalisierung von Strauss‘ monumentaler Partitur bleibt die St.Galler Premiere von gestern Abend nichts an Adäquatheit schuldig. Mehrerer eruptierender Vulkane gleich ergießt sich diese Musik unter permanentem Überdruck von der Bühne und aus dem Graben in den Saal. Man ist fasziniert und zugleich abgestoßen, die Ohren schmerzen – und doch verlangt man in beinahe masochistischer Art nach mehr, mehr von dieser „Fettgewebeentartung der Instrumentation“ (wie der britische Musikjournalist Neville Cardus Strauss‘ Orchestermagie bezeichnete). Für St.Gallen hatte der Chefdirigent Modestas Pitrenas die Orchesterfassung des österreichischen Komponisten Richard Dünser gewählt, welcher die ursprünglich von Strauss für ein Orchester von fast 120 Musiker konzipierte Partitur auf eine klanglich überaus geschickt ausbalancierte Fassung für ein durchschnittliches Theaterorchester von ca. 50-60 Musikern reduziert hatte. Im Gegensatz zu Dünser fügte Pitrenas aber den Schlusschor wieder ein.

© Edyta Dufaj

Das Sinfonieorchester St. Gallen spielt diese immer noch wuchtige Fassung mit nie nachlassender Spannung, gebotener zugespitzter Schärfe und herausragender klanglicher Differenzierung. Die Titelpartie der Elektra gehört zu den anspruchsvollsten und anstrengendsten des gesamten Repertoires für hochdramatische Sopranistinnen. Eliška Weissová verfügt über über diese nie nachlassende Kraft, schleudert die Töne fanfarenartig detonierend in den Raum, vom brustigen Röhren aus dem Register durchschreitend zur gellenden, schmerzerfüllten, nie wackelnden Höhe. Nur ganz, ganz selten nimmt sie ihre Stimme zurück, etwa in der Szene mit ihrer Mutter Klytämnestra, wo sie die Ausdrucksweise von beißendem Sarkasmus geprägt triefen lassen kann. 

Ariana Lucas gestaltet diese Klytämnestra ohne übertriebene Hysterie; die Stimme sitzt perfekt und strömt schon fast zu „schön“ in ihrem großen Monolog. Mit wunderbarer tonlicher Rundung und schönem Aufblühen gestaltet Sylvia D’Eramo Elektras sanftere, nach „Weiberschicksal“ strebende Schwester Chrysothemis. Die Stimmen von Elektra und Chrysothemis nähern sich gegen Ende in der Dezibel Zahl allerdings immer mehr an. Ganz hervorragend und mit sehr lebendiger Durchdringung des Textes singen die fünf Mägde (Christina Blaschke, Jennifer Panara, Mack Wolz, Anna Mahon – auch als die Schleppenträgerin – und Kali Hardwick), sowie die Aufseherin Katrine Deleuran (sie ist auch die Vertraute Klytämnestras). Neben dem das Werk dominierenden Trio der Frauengestalten (Elektra, Klytämnestra, Chrysothemis) haben die Männer, die erst im Schlussteil auftreten, einen schweren Stand.

© Edyta Dufaj

Erst recht an den Rand gedrängt werden sie in dieser Inszenierung von Lisaboa Houbrechts, die der Lesart der Oper einige feministische Aspekte aufzudrücken versucht. Zwar hatte auch Hofmannsthal durchaus Sympathien für die Einwände eines Kritikers, welcher die Figur des Orest eigentlich für entbehrlich gehalten hatte. Strauss hingegen wollte mehr „Orest“ und schrieb seine „schönste“ Musik für die Erkennungsszene zwischen Bruder und Schwester. Lisaboa Houbrecht nun sieht in der Generation der Töchter das Matriarchat geschwächt: Klytämnestra hatte zu ihrer Zeit noch die Kraft besessen, ihren Mann selbst zu ermorden, Elektra hingegen geht diese Frauenpower ab; ständig ruft sie nach Bruder und Vater. Ein Grund für die Regisseurin, Elektra zu Orest mutieren zu lassen; dieser drückt der Schwester eine phallusartige, archaische Keule in die Hand, mit der Elektra ihre Mutter erschlägt. Den Aegisth erwürgt sie eigenhändig. Sehr überzeugend wirkt das auf mich nicht (aber ich bin ja auch ein alter, weißer Mann). Das Kinderzimmer (mit dem Mobile aus schwarzen Gespenstern, dem Kinderbett und dem Schrank, aus dem heraus Elektra zu Beginn auftritt – eine Art „Out of the closet“, ein Comingout als unerbittliche Rächerin, allerdings noch im falschen Körper) wandelt sich in der Erkennungsszene in ein Spiegelkabinett und führt so zur Selbsterkenntnis Elektras, ein Mann zu sein (Bühne: Clémence Bezat, Licht: Floriaan Ganzevoort).

Die Bühnenarbeiter, welche diese szenische Verwandlung inszenieren, tragen paramilitärisches Outfit, schwarze Springerstiefel und Armyhosen, dazu Headsets für die Kommunikation. Auch Orest wirkt wie ein Regisseur oder Inspizient in Uniform. Kristján Jóhannesson singt ihn mit warmem Bariton, aber die Regisseurin verweigert ihm die Profilierung, da er ja nur als Werkzeug der geschlechtlichen Transformierung Elektras fungiert. Riccardo Botta als einstige Kampfmaschine Aegisth wird vom Kostümdesigner Oumar Dicko in einen weit geschnittenen, auberginefarbenen Anzug gesteckt, der den ihm von Elektra verliehenen Schimpfnamen „das Weib, die Memme“ trefflich unterstreicht.

© Edyta Dufaj

Ebenso trefflich, wie Riccardo Botta den ängstlichen, vom Verfolgungswahn geprägten Tonfall trifft. Jonas Jud als Pfleger/Alter Diener und Barna Kovács als Junger Diener ergänzen das Theater auf dem Theater-Ensemble. Diese Idee, eine Bühne auf der Bühne darzustellen, wird – leider – zu häufig genutzt und schafft meines Erachtens meist eine unnötige, intellektualisierte Distanz des Zuschauers zur Handlung. So kommen auch die fünf Mägde und die Aufseherin wie das Einlasspersonal des Theaters St. Gallen daher, inklusive Namensschild und Werbe-Umhängetaschen mit dem Logo des Theaters. Ziemlich makaber ist zudem das symbolistische Gebärverhalten der Mägde, die sich in Wehen winden und Babys in Wolldecken in den Raum hinunterwerfen. Alles in allem eine für mich unausgegorene Angelegenheit, doch die musikalischen Fluten spülten auch dieses Unbehagen mit Vehemenz hinweg, und das Premierenpublikum war ganz aus dem Häuschen vor Begeisterung. 

Kaspar Sannemann, 26. Mai 2025


Elektra
Richard Strauss
Reduzierte Orchesterfassung von Richard Dünser

Theater St. Gallen

10. Mai 2025

Inszenierung: Lisaboa Houbrechts
Dirigat: Modestas Pitrenas 
Sinfonieorchester St.Gallen