Die letzte Produktion vor der Sommerpause galt Vincenzo Bellinis seit 1977 an der Scala nicht mehr gegebenes Meisterwerk. Umso freudiger erwartete das Publikum, die so schwierige, aber auch so geliebte Oper wieder erleben zu dürfen. Doch ach! Auch Regisseur Olivier Py kam mit der romantischen Handlung von Galliern und römischer Besatzungsmacht nicht zurecht. Als die laufende Saison im Vorjahr noch von Dominique Meyer vorgestellt wurde, sagte dieser, dass es sich um ein kühnes Projekt handle und er durchaus mit Buhrufen rechnen würde. Und so war es denn auch: Bei der Premiere war die Ablehnung durch Publikum und Presse außergewöhnlich einhellig.

Nachdem ich die vierte Aufführung der Serie erlebt habe, schließe ich mich dieser Ablehnung an. Allerdings kann ich die Interpretation durch den Regisseur keineswegs als „kühn“ bezeichnen, denn eine Verlegung der Handlung ins 19. Jahrhundert ist alles andere als neu. Die Gallier wurden also zu nach Unabhängigkeit strebenden Italienern, die Römer zu den verhassten Österreichern. Damit das auch alle im Publikum verstehen, wurde die Ouvertüre (wieder einmal) bebildert, und man sah einen vor der Fassade der Scala (Bühne: Pierre-André Weitz) erschossenen Bürger, der mit der italienischen Fahne bedeckt wurde, und um den sich verstörte Bürger sammelten. Um genau zu sein, durch ihre Kostüme (gleichfalls von Weitz) als kleine Handwerker gezeichnet.
Allerdings ging in der von Py angepeilten Periode die Hoffnung auf Unabhängigkeit von Vertretern des Adels und des Großbürgertums aus. Doch sei’s drum – man konnte sich auf eine derartige Interpretation einstellen, aber da gab es einen Haken: Mit Ausnahme der österreichischen Uniformen wurde die Geschichte nicht in dieser Form weitererzählt. Dem Programm habe ich später aus einem Beitrag Pys entnommen, dass Norma eine mit den Aufständischen zusammenarbeitende Sängerin ist. Von solcher Auffassung war keine Spur zu sehen, nicht einmal zu erahnen. Es gab im Gegenteil die heutzutage üblich gewordenen Mimen, die in schwarzen Hosen und mit nacktem Oberkörper Unergründliches verkörpern sollten: Symbolisierten sie Gewissensbiss, Todesahnung (darauf würden von ihnen wiederholt herumgetragene goldene Schädel hinweisen, die allerdings eher an Schrumpfköpfe in brasilianischer Tradition erinnerten), waren sie schlicht dekorativ? Die Choreografie (?) von Ivo Bauchiero trug nichts zur Lösung des Rätsels bei. Dass Pollione und Adalgisa ihre Auseinandersetzung bzw. Liebesduett zwischen den Metallstrukturen des umgedrehten Bühnenbilds voneinander entfernt singen mussten, gehört ebenso zur Auffassung des heutigen Regiebetriebs wie dass der „Casta diva“ beleuchtende, später zum Gong mutierende, Mond wie im Laientheater bewusst händisch auf und ab manövriert wurde. Irgendwann sah man Flammen, die auf ein dem Libretto entsprechendes Ende von Felice Romanis genialem Libretto hoffen ließen, aber auch da wollte der Regisseur „originell“ sein: Norma und Pollione wurden erschossen (und zwar von den vorgenannten Mimen/Tänzern, keineswegs von den österreichischen Besatzern). Nicht zu vergessen die mit dickem Stift verfasste Aufschrift MEDEA auf einem mit Glühbirnen bestückten Spiegel – hätte der Zuschauer diesen als Garderobenutensil und damit den Zusammenhang Norma=revolutionäre Sängerin erkennen sollen?

Besprechungen mit hinsichtlich der Regie negativen Einleitung werden oft mit der Feststellung fortgesetzt, dass die musikalische Wiedergabe für das szenische Leid entschädigte. Leider war das hier nicht hundertprozentig der Fall, denn nach einer lärmend musizierten Ouvertüre beruhigte sich zwar der von Fabio Luisi am Pult hervorgerufene Klangpegel des Orchesters des Hauses, doch vermochte sein Dirigat, mit Ausnahme einiger schöner lyrischer Klangbögen, keine speziellen Akzente zu setzen. Marina Rebeka sang die Titelrolle, sieht man von ein paar metallisch-scharfen Spitzentönen ab, stimmlich durchaus überzeugend, doch fehlte mir die Aura der großen Tragödin. Allerdings war es in dieser kleinkarierten Inszenierung alles andere als leicht, eine charismatische Persönlichkeit zu verkörpern. Charisma und hohe Musikalität besaß hingegen die Adalgisa der Vasilisa Berzhanskaja, die die Seelenzustände der Figur zwischen Pflicht, Liebe und Verzicht überaus klangschön vermittelte. Außerdem passte ihr heller Mezzo gut zu Rebekas dunklerem Sopran. (Der Regisseur sah sie übrigens als nächste Hohepriesterin, ließ er ihr doch von Norma deren ihre Position verkündendes Geschmeide umhängen). Um die Absage des indisponierten Freddie De Tommaso mitzuteilen, kam niemand vor den Vorhang, sondern ein Lautsprecher verkündete, dass Antonio Poli den Pollione singen würde. Der als Cover und für die letzte Vorstellung vorgesehene Sängergab die Rolle mit virilem Tenor, aber nicht als Kraftprotz, verfügte er doch auch über schöne, tragende Piani. Nicht in Form war an diesem Abend leider Michele Pertusi, der den Oroveso als eine Art Giuseppe Mazzini szenisch zwar scharf charakterisierte, aber wenig stimmliche Durchschlagskraft hatte. Vielversprechend klang Laura Lolita Peresivana aus der Accademia della Scala als Clotilde, und Paolo Antognetti verlieh dem Flavio fast heldentenorale Töne. Alessia Camarin (Ines) setzte ihren angenehm timbrierten Sopran recht zaghaft ein. Der von Alberto Malazzi einstudierte Chor des Hauses sei wegen seiner Stimmfülle und Spielfreudigkeit erneut gepriesen.
Das touristisch besonders stark durchsetzte Publikum applaudierte allen Mitwirkenden.
Eva Pleus, 14. Juli 2014
Norma
Vincenzo Bellini
Teatro alla Scala, Mailand
8. Juli 2025
Inszenierung: Olivier Py
Musikalische Leitung: Fabio Luisi
Filarmonica della Scala