Aachen: „Jean Cocteaus Monooper“

Poulencs Voix humaine

Lieber Opernfreund-Freund,

in einer Kooperation der Schauspiel- mit der Musiktheatersparte des Theaters Aachen hatte gestern La voix humaine/Die menschliche Stimme am Theater Mörgens in Aachen Premiere. Dabei werden Poulencs Monooper und die literarische Vorlage von Jean Cocteau einander gegenübergestellt. Das Experiment gerät dank der beiden Ausnahmekünstlerinnen Stefanie Rösner und Suzanne Jerosme zum bewegenden Theaterabend.

Eine Frau telefoniert mit der Liebe ihres Lebens. Der Mann hat sie verlassen und sie damit in tiefes Unglück gestürzt. In einem Telefongespräch versucht die Frau, die im Stück wie ihr männlicher Gesprächspartner namenlos bleibt, sich dieses Unglück nicht anmerken zu lassen, doch die Fassade bröckelt – verstärkt auch durch die wiederholten Unterbrechungen des Telefongesprächs – und Schmerz, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit brechen sich Bahn. Besonderen Reiz erhält dieser Plot dadurch, dass wir nur hören, was die Frau sagt; was genau ihr Exfreund ihr erwidert, welche Themen er anschneidet, lässt sich nur die die verbalen und nonverbalen Reaktionen der Frau erahnen. Am Ende bleibt offen, ob die Frau sich mit der Telefonschnur erdrosselt.

Clara Hinterberger und Tommy Wiesner deuten bei der Realisierung dieses Projektes den Schluss dahingehend, dass die Verlassene weiterleben will. Zuvor hat sie sich aus dem Netz befreit, in dem sie die alte Beziehung gefangen hielt. Die Protagonistinnen enthüllen in den rund eineinhalb Stunden eine goldene Kulisse, die einem Zerrspiegel gleich sukzessive einen veränderten Blick auf sich selbst ermöglicht. Die über weite Teile des Abends quer über die Bühne verlaufenden Schnüre wecken unwillkürlich eine Telefonschnurassoziation, wie in einem Spinnennetz halten sie die Frau aber gefangen. Erst mit der Aufarbeitung ihrer Beziehung im Telefongespräch und mit dem Sicheingestehen der neuen Situation ermöglicht sich die Frau eine neue, eine eigene Zukunft. Dabei werden die einzelnen Phasen des Gesprächs als Sprechtheater eingeführt und dann musikalisch wiederholt und umgekehrt. Das führt unwillkürlich zu immenser Verstärkung der Reaktion beim Publikum, das hautnah Zeuge dieser Katharsis wird.

Dass dieser Ansatz so gut funktioniert, ist vor allem den beiden Darstellerinnen der Frau geschuldet. Mit exzeptioneller Intensität machen Stefanie Rösner und Suzanne Jerosme die Seelenzustände ihrer Figur, die Verzweiflung, aber auch die Metamorphose hin zur befreiten Frau greifbar. Rösners intensives Spiel stellt einem die Nackenhaare auf, Jerosmes Gesang geht unter die Haut. Ganz wahrhaftig lassen die beiden das Publikum in das Innerste der Frau blicken und erwecken den Eindruck, man könne dabei auch ihr Innerstes selbst sehen. Dabei verstärken Gesang und Spiel sich gegenseitig und führen zu einem intensiven (Musik-)Theatererlebnis. Dass die Sängerin ihrer Schauspielkollegin dabei auch darstellerisch in nichts nachsteht, ist nicht selbstverständlich und deshalb umso erwähnenswerter.

Der intime Rahmen des Theatersaals, in dem das Publikum direkt an der zentriert platzierten Spielfläche sitzt, und die intime Atmosphäre des Stücks erfahren in der intimen Klavierbegleitung von Younghee Hwang die logische Fortsetzung. Die Pianistin begleitet das Bühnengeschehen einfühlsam auf der einen und höchst dramatisch auf der anderen Seite. Zwischen den Szenen spielen Hinterberger und Wiesner teilweise Versatzstücke aus bereits Gesprochenen oder Musikfetzen und Videosequenzen mit den drei beteiligten Künstlerinnen ein und schaffen so konsequent eine Atmosphäre des Inneren, geben den Zuschauer das Gefühl, die Seele der Frau erkunden zu können. Das Publikum ist am Ende das Abends begeistert und feiert diese Symbiose der Kunstformen mit lang anhaltendem Jubel. In den stimme ich gerne ein und bin auch heute – am Tag danach – noch immer ergriffen von der Intensität, mit der Suzanne Jerosme und Stefanie Rösner mich an ihrer Kunst haben teilhaben lassen.

Ihr
Jochen Rüth

20.02.2022

Die Fotos stammen von Ludwig Koerfer.