Frankfurt: „Die Zauberflöte“, Wolfgang Amadeus Mozart

Bericht von der Premiere am 2. Oktober 2022

Zauberflöte ohne Zauber

Die Inszenierung der Zauberflöte von Alfred Kirchner war zuletzt die älteste Produktion am Frankfurter Opernhaus. Seit der Premiere im Oktober 1998 hatte sie über 150 meist ausverkaufte Aufführungen erlebt. Für viele Besucher, nicht nur Kinder, war sie die ideale Einstiegsdroge in die Welt der Oper. Dafür sorgten insbesondere die wunderbar verträumten, genial ironisch unterwanderten Bühnenbilder von Michael Sowa. Gezeigt wurde ein vor phantasievollen Einfällen überschäumendes, saftiges Wunderwerk, welches so humor- wie lustvoll die Möglichkeiten dieses Zauber- und Maschinenstücks auskostete mit dramatischen Auf- und Abtritten samt Feuereffekten. Allein: Trotz traumhafter Auslastungszahlen und begeisterter Publikumsreaktionen über 20 Jahre hinweg wurde Intendant Bernd Loebe nicht müde, bei jeder sich bietenden Gelegenheit seine Distanz zu diesem Erbstück aus Zeiten seines glückloseren Vorgängers zu demonstrieren. Im zwanzigsten Jahr seiner Intendanz sollte es nun endlich eine Zauberflöte „für Erwachsene“ sein. Und man muß ihm zugestehen, daß tatsächlich bei Kirchner-Sowa von einer in den letzten Jahren gerade in Frankfurt mit Regisseuren wie Christof Loy und Claus Guth zur Perfektion entwickelten psychologisch fundierten Personenführung kaum (noch) etwas zu bemerken war.

Nun sieht das Publikum in der aktuellen Neuproduktion von Mozarts letzter Oper, wenn der Vorhang sich nach der dankenswerterweise unbebilderten Ouvertüre hebt, ein Bühnenbild (Andrew Lieberman), wie es sich in ungezählten Loy- und Guth-Produktionen als idealer Hintergrund für ausgefeilte Personenregie erwiesen hat: Weiße, schmucklose Wände, viele Türen, zurückhaltende, edle klassizistische Möblierung. Auch ein Flügel darf in diesem gutbürgerlichen Haushalt nicht fehlen. Auf der Drehbühne sind unterschiedliche Räume angeordnet, durch welche Tamino bis zur ersten Pause wie benommen in Pyjamahose und dicken Socken schlafwandlergleich herumschlurft. Natürlich wird er zu Beginn von keiner Schlange verfolgt und folglich auch nicht von den drei Damen errettet. Diese sind als Party-Girls mit Champagnerflaschen ausgestattet und necken beschwippst den verschlurften Prinzen und den inzwischen hinzugetretenen, in einen zitronengelben Dreiteiler gewandeten Papageno.

Kelsey Lauritano (Zweite Dame), Michael Porter (Tamino), Cláudia Ribas (Dritte Dame) und Monika Buczkowska (Erste Dame)

Die Handlung des Stückes wird bewußt allenfalls rudimentär dargestellt. Die heiklen Dialoge, welche oft durch radebrechende Nichtmuttersprachler recht peinlich wirken können, werden vom Band eingespielt. Die Schauspielerin Heidi Ecks findet dafür mit angenehmer Sprechstimme einen überzeugend natürlichen Erzählton. Während dieser Sprecheinspielungen erstarren alle Bühnenfiguren außer Tamino zu Tableaux vivants. So gerät, da eine die Handlung vorantreibende Bebilderung der Sprechszenen fehlt, die Aufführung zu einer Nummernrevue. Die vielen Wunschkonzertstücke werden schlicht abgehakt, eines nach dem anderen. Schnell zeigt sich, daß Regisseur Ted Huffman an Loy oder Guth nicht heranreicht. Bis zur Pause bleibt rätselhaft, was er denn überhaupt sagen möchte und insbesondere, wie die auftretenden Figuren miteinander zusammenhängen. Sie sind hier ja samt und sonders Bewohner desselben Haushalts. Ist Sarastro etwa der strenge Vater von Tamino, die Königin der Nacht seine vereinsamte Mutter? Oder sind sie eher die Eltern von Pamina? Oder beides zugleich? Wer ist dieser zitronengelbe Papageno? Ein Alter ego Taminos? Und welche Funktion hat Monostatos? Im Original-Libretto ist er ein lüsterner, verschlagen-devoter „Mohr“, ein rassistisches Zerrbild, das aber immerhin zu einer aufklärerisch-humanistischen Reflexion Papagenos führt, der in seiner geistigen Schlichtheit erkennt, daß auch ein farbiger Mensch eben zuallererst ein Mensch ist („Es gibt ja schwarze Vögel in der Welt, warum denn nicht auch schwarze Menschen?“). Das Produktionsteam hat sich entschieden, diesen Reibungspunkt vollständig zu eliminieren, die Problematik aus den Sprechtexten gänzlich zu streichen und in den gesungenen Texten woke und feige zu verharmlosen. Die einzige Arie des Monostatos baut im Original auf dem Hautfarbengegensatz auf, um dessen Außenseitertum und Komplexbeladenheit herauszustellen und zugleich die Motivation seiner sexuellen Begierde psychologisch zu grundieren. Wo es im Libretto heißt: „weil ein Schwarzer häßlich ist“ erklingt nun: „weil mein Antlitz häßlich ist“ und aus „weiß ist schön, ich muß sie küssen“ wird ein mattes und banales „sie ist schön“. Damit macht man es sich zu einfach.

Tamino (Michael Porter), angeblich vor den Toren des Weisheitstempels

Erst im zweiten Teil nach der Pause wird die übergeordnete Idee der Inszenierung, die das wie immer instruktive Begleitheft entwickelt, auch auf der Bühne deutlicher: Als weitere, stumme Gestalt taucht ein Greis auf, eine gealterte Version von Tamino, wie seine Kleidung verrät. Er ist offensichtlich dement, bewegt sich mühsam, halt- und orientierungslos durch das Haus, umsorgt von einer gleichalten Gefährtin, bei der die Kleidung nicht verrät, ob es sich um die gealterte Version der Pamina handelt. In dem geistigen Nebel seiner Demenz erscheinen die Musiknummern der Zauberflöte wie Fetzen der Erinnerung, letzte Anker aus einer Vergangenheit vor der Erkrankung. Auf dem Flügel liegt, wie sich am Schluß zeigt, eine Partitur der Zauberflöte. Der junge Tamino schlägt hier einmal traumverloren einige Tasten an, der alte Tamino kramt zu der Verzweiflungsarie Papagenos mit ihren Selbstmordgedanken die Töne der Panflöte hervor und probiert sie am Flügel aus. Dies ist einer der wenigen Momente, in denen sich der behauptete Überbau mit den Vorgaben des Stückes musikalisch verbindet. Schon kurz zuvor, bei der Feuer- und Wasserprobe hatte sich sogar szenisch eine stille und berührende Umdeutung des Textes ereignet. Wenn Tamino und Pamina im Duett Feuer und Wasser durchschreiten und hier erst durch gemeinsam bewältigte Not und Gefahr zum Paar werden („Wir wandeln durch des Tones Macht, froh durch des Todes düstre Nacht! Wir wandelten durch Feuergluten, bekämpften mutig die Gefahr“), sitzt das gealterte Paar am Flügel und schaut in die Partitur der Zauberflöte. Sie blickt in sanfter Melancholie zurück auf die gemeinsame Vergangenheit, in ihm blitzen Erinnerungen wieder auf. Sie haben ihren Frieden gemacht mit dem nahenden Ende, dem allmählichen Verdämmern, getröstet durch ihre Verbindung, dankbar für das gemeinsam Erlebte. Derart aus dem Märchenkontext herausgenommen zeigt sich eine unerwartete Parallele zum letzten von Richard Strauss‘ „Vier letzten Liedern“, wo es im Text von Eichendorff heißt: „Wir sind durch Not und Freude gegangen Hand in Hand: Vom Wandern ruhen wir beide nun überm stillen Land. … Zwei Lerchen nur noch steigen nachträumend in den Duft. Tritt her und laß sie schwirren, bald ist es Schlafenszeit, daß wir uns nicht verirren in dieser Einsamkeit. O weiter, stiller Friede! So tief im Abendrot, wie sind wir wandermüde – Ist dies etwa der Tod?“

Michael Porter (Tamino), Corinna Schnabel (Frau) und Micha B. Rudolph (Mann)

Das Begleitheft zitiert dazu Schopenhauers überraschende Gedanken zur Zauberflöte, wonach der Tod als „unbekannter Führer“ gleich dem ägyptischen Priester die Suchenden zu ihrem Ziel führt: dem Ende des Lebens. So sieht man in der letzten Szene das alte Paar kurz vor dem physischen Erlöschen. Sie bereitet eine Mahlzeit, er läßt sich von ihr umsorgen. Der triumphale Schlußchor ertönt dazu aus dem Off, weht bloß von Ferne herein. Auch wenn so im letzten Drittel der Aufführung die philologisch diskutable Deutung des Stückes unter dem Leitmotiv des Übergangs vom Leben zum Tod an Prägnanz gewinnt, hat Ted Huffman insgesamt der Zauberflöte jeden Zauber und fast jeden Charme ausgetrieben. Allein die Papageno-Szenen läßt er zu ihrem Recht kommen, erlaubt hier dem famosen Danylo Matviienko sein enormes darstellerisches Potential auszuspielen und für wenige humorvolle Farbtupfer zu sorgen. Endlich ist dieser Sänger mit seinem gut fokussierten, virilen aber noch schlanken Bariton einmal in einer herausgehobenen Partie besetzt. Bei diesem Rollendebüt stimmt alles: Stimmfarbe, Gestaltung, Agilität und ausgezeichnete Textverständlichkeit. Hier ist ein großes Talent aus dem Opernstudio herausgewachsen, das dem Haus hoffentlich noch lange erhalten bleiben wird.

Belebende Farbtupfer: Danylo Matviienko (Papageno) und Karolina Bengtsson (Papagena)

Bei der Besetzung der übrigen Hauptpartien muß man trotz gediegenem Niveau hie und da kleine und einmal sogar größere Abstriche machen. Michael Porter geht den Tamino nachdenklicher als üblich an. So läßt etwa schon zu Beginn die differenzierte Gestaltung der Bildnis-Arie aufhorchen. Das ist technisch gut gemacht und überzeugt gerade in der intelligenten Textbehandlung. Jedoch bleibt sein Stimmtimbre, dem ein durchgängig klagender und mitunter leicht schluchzender Ton zu eigen ist, Geschmackssache. Für Andreas Bauer Kanabas liegt die Partie des Sarastro hörbar zu tief. Auch wirkt sein dunkel getönter Baßbariton gaumiger und schroffer als gewohnt. Der Pamina von Hyoyoung Kim fehlt es bei ihrem technisch tadellos geführten und angenehm klingenden Sopran dagegen (noch) an stimmlicher Individualität. Als Königin der Nacht führt der Besetzungszettel Anna Nekhames auf und weiß zu berichten, daß sie an der Wiener Volksoper in dieser Partie gefeiert worden sei. Entweder war sie an diesem Premierenabend vollständig indisponiert. Dann hätte sie es ansagen lassen müssen. Oder aber die Sängerin lag gefesselt und geknebelt im Keller des Opernhauses, während eine nahe Verwandte von Florence Foster Jenkins die Rolle gekapert hatte. Zu hören war eine piepsige Stimme mit ältlichem Timbre, die sich schon in der Auftrittsarie durch die Koloraturen mogeln mußte und den Spitzenton nur kurz anreißen konnte. Das ließ für die berühmte Rache-Arie nichts Gutes ahnen, und tatsächlich waren dann allenfalls Fragmente von Mozarts Komposition zu hören.

Anna Nekhames (sitzend) versucht sich an der Königin der Nacht

Über die Besetzung der Nebenpartien ist dagegen durchweg Erfreuliches zu berichten. Die drei Damen Monika Buczkowska, Kelsey Lauritano und Claudia Ribas gefallen mit frischen Stimmen und fügen sich zu einem gut aufeinander abgestimmten Terzett. Drei Knäbinnen aus dem hauseigenen Kinderchor bewältigen ihre Partien souverän und mit klarer Stimme (daß das Programmheft die jungen Sängerinnen jeweils als „SolistIn“ mit Binnen-I ausweist, entlarvt einmal mehr die Gedankenlosigkeit der epidemischen Durchgenderei). Theo Lebow gibt den Monostatos im traditionellen Ton eines Charaktertenors. Nach seinem Hausdebüt als Angelotti in der aktuellen Aufführungsserie der Tosca erfreut Erik van Heyningen erneut mit seinem satten, dunklen und zugleich noch jugendlichen Baßbariton in den beiden Partien des Sprechers und des Ersten Priesters. Karolina Bengtssons Sopran gefällt in der kleinen Partie der Papagena mit rundem Ton, der auf ihre Einsätze als Pamina in späteren Aufführungen neugierig macht. Eine beglückende Leistung bietet das Orchester unter der Leitung von Steven Sloane. Daß die ersten beiden Einsätze der Pauke in der Ouvertüre zu früh kommen, ist der Premierennervosität geschuldet. Die Musiker zeigen sich in allen Gruppen in bestechender Form. Die Streicher meistern den historisch informierten Verzicht auf Dauervibrato ohne die sonst so oft zu hörenden Intonationstrübungen. Trotz reduzierter Besetzung klingen sie nicht anämisch dünn, sondern erfreuen mit klarem, spannungsreichem Ton und sprechender Phrasierung. Die stark geforderten Holzbläser entfalten solistisch eine breite Palette an Klangfarben und fügen sich im Ensemble zu leuchtenden Harmoniemusiken. Dem Dirigenten gelingt es trotz des beständigen Stopp-and-Go der Regie immer wieder gleichsam aus dem Stand die Musik unter prickelnde Spannung zu setzen. Die oft sehr raschen Tempi wirken dabei nie gehetzt. Würde es allein auf den Orchestergraben ankommen, so wäre von einem perfekten Premierenabend zu berichten gewesen. Daß der Chor sich mit gut ausbalanciertem Klang ideal hinzufügt, bedarf in Frankfurt kaum noch der Erwähnung.

Das Publikum geht im Schlußapplaus mit den Sängern freundlich um und belohnt die Orchesterleistung mit ungeteiltem Zuspruch. Bei der Bewertung von Regie und Bühnenbild zeigt es sich gespalten. Zum Publikumsliebling wird diese Produktion nicht werden. Für den Erstkontakt mit der Kunstform Musiktheater eignet sie sich für Kinder und Opernanfänger kaum. Selbst die Gutwilligen im Stammpublikum werden ohne Vorbereitung mit dem Regieansatz nicht warm werden können. Es ist kaum vorstellbar, daß diese Produktion allzu viele Wiederaufnahmen erleben wird.

Michael Demel / 3. Oktober 2022

© der Bilder: Barbara Aumüller