Premiere am 22.04.2022
Wenn der Schwan krank wird und ausfällt, ist das nicht so tragisch und ein Ersatz schnell gefunden. Trifft es aber wenige Wochen vor der Premiere den Ritter Lohengrin, ist das schon eine mittlere Katastrophe. Was für ein Glück, dass Intendant Jens Neundorff von Enzberg so gut vernetzt ist und den dänischen Tenor Magnus Vigilius nach Meiningen herbeizauberte.
Wer Wagner bislang scheute, ob seiner angeblichen Schwere der Musik, der anspruchsvollen Inhalte und der überlangen Aufführungen, dem sei Ansgar Haags Inszenierung empfohlen. Fast fünf Stunden lang versetzt sie das Publikum in Hochspannung durch eine Musik, die emotional packt und Bilder schafft, mit großartigen Sängerinnen und Sängern, die auch exzellente Schauspieler sind. Die vollendete Harmonie zwischen Orchester und Handlung, Figuren und Bühnenbildern machen staunend sprachlos.
Düster beginnt der erste Aufzug. Es ist die Zeit des politischen Vormärz. Der revolutionäre Versuch, eine deutsche Republik zu gründen, ist gescheitert. König Heinrich mahnt in diesen unsicheren Zeiten zur Einheit und beschwört Bürger und Heer, Geschlossenheit und Kampfeswillen zu zeigen. Düster wirkt auch der Raum der Versammlung: alte Stühle, Palastwände mit verblassten Farben, ein bedrohliches Hintergrundbild und eine umgestürzte riesige Eiche. Graf von Telramund erscheint und bezichtigt Elsa von Brabant des Mordes an ihrem Bruder Gottfried. Nach dem Tod des Fürsten konnte der Graf die erste Frau im Herzogtum nicht gewinnen und heiratete stattdessen Ortrud, die sich aus dieser Ehe Macht und Reichtum versprach. Nun bittet er den König zu richten. Elsa verteidigt sich nicht, wirkt seltsam entrückt und erzählt von einem Ritter, der sie tröstete. Frauen scharen sich um sie, der König zweifelt an ihrer Schuld und Telramund hat keinen Beweis. Ein Gottesurteil soll nun entscheiden. Selcuk Hakan Tıraşoğlu verkörpert vom ersten Augenblick an würdevolle Autorität. Der Wirkung seiner kolossalen volltönenden Stimme kann sich keiner entziehen. Sein Auftreten wirkt bestimmt, seriös und wahrhaft königlich. Seine Haltung, frei von Emotionalität und Parteinahme, bestärkt die Akzeptanz.
Ganz anders spielt Bariton Shin Taniguchi den missgünstigen Lügner Friedrich von Telramund mit fieser Mimik und Gestik und gestaltet perfekt den negativen Touch. Im flatternden schwarzen Mantel mit hohem Kragen, von schmaler Gestalt, hat er etwas Windiges und Teuflisches an sich. Lena Kutzner im weißen schlichten Gewand verschmilzt mit der Rolle der Elsa und singt so berührend und innig von dieser Begegnung mit dem rätselhaften Fremden, dass sie alle in ihren Bann schlägt. Sie verspricht ihm Land, Krone und Ehe, wenn er kommt und sie rettet. Tatsächlich wird ihr Hilferuf erhört und Lohengrin erscheint in gleißendem Licht, begleitet von einem imaginären Schwan. Magnus Vigilius ist nicht nur optisch die erste Wahl für diesen edlen Ritter. Blond, hochgewachsen und schlank, in weißem Anzug, strahlt er Reinheit und Größe aus. Auch seine Stimme, markant, aber fein, kultiviert und wohl verständlich, passt wunderbar zu Elsa. Er verspricht, für sie im Kampf gegen Telramund anzutreten und bittet sie außerdem, seine Frau zu werden, doch nie darf sie nach seinem Namen und seiner Herkunft fragen. Überglücklich stimmt sie zu, er besiegt den Grafen und schenkt ihm aber sein Leben. Außerdem versichert er dem König seine Gefolgschaft als Schützer von Brabant. Mit einem großartigen Chorfinale endet der erste Teil. „Was wäre der Lohengrin ohne Chor? – Nix!“, konstatierte der Intendant am Ende. Fast in jeder Szene ist er präsent in wechselnden Rollen und keinesfalls uniformen Kostümen. Faszinierend zart und fast unbemerkt setzt er ein, gewinnt an Volumen und steigert sich, flüstert, brüllt, jubelt und fungiert als Volk, Heer oder Hochzeitsgesellschaft. Manuel Bethe und Konstantin Ostheim-Dzerowycz schufen diese Basis mit ihren Sängerinnen und Sängern in Vollendung. Zwar hat der Heerufer des Königs nur eine Nebenrolle, doch Tomasz Wijas feste Stimme und sein Auftreten signalisieren Autorität, Ordnung und Stärke.
Zu Beginn des zweiten Aufzugs befinden sich Telramund und seine Frau, geschockt von ihrem Pech, vor der riesigen schwarzen Tür des Palasts. Großartig spielt er den Gedemütigten, der nun erkennt, was sie für ein böses Weib ist, das ihn nur wegen ihrer eigenen Machtambitionen benutzt hat. Sabine Hogrefe treibt hier als Ortrud ein Spiel par excellence. Hexengleich beherrscht sie alle Facetten der Manipulation und besticht schon optisch mit roter Mähne und schwarzbuntem Gewand. Unbeeindruckt von seinen Vorwürfen schwingt sie sich in ihrer Rachsucht zu einer Größe auf, der Telramund nichts entgegenzusetzen weiß. Der Facettenreichtum ihrer gewaltigen Stimme reicht vom abgründig Tiefen bis zu schrillen Höhen. Sie ist die lebendigste und schillerndste Figur und zieht die Fäden. Sie pusht den Grafen, nicht aufzugeben, sondern einen Weg zu finden, Lohengrins Geheimnis zu lüften. Raffiniert spielt sie Elsa die gebrochene Frau vor, die alles verloren hat, erweckt Mitleid und wird aufgenommen. Geschickt sät Ortrud erste Zweifel an der Integrität Lohengrins, doch noch ist Elsas Vertrauen stärker. Am nächsten Tag verkündet der Heerufer die Verbannung Telramunds. Gleichzeitig laufen die Hochzeitsvorbereitungen an. Alles scheint gut zu werden. Der Hochzeitszug formiert sich. Männer in eleganten Anzügen und Damen in zauberhaftem Grün, der Farbe der Hoffnung und Erneuerung, sammeln sich. Als Elsa das Münster betreten will, erscheint Ortrud als flammende Furie im roten Gewand, die für sich als Ranghöhere den Vortritt beansprucht. In die Enge getrieben beschuldigt der Graf den Ritter der Zauberei und verlangt die Offenbarung von Herkunft und Namen. Die Dramatik der Ereignisse wird – typisch Wagner – durch beeindruckende Naturszenen nach Caspar David Friedrich verstärkt. Lohengrin ist nun in einem Dilemma, Chor und Orchester steigern die Spannung, aber Elsa steht zu ihm und auch der König ist von seiner göttlichen Reinheit überzeugt.
Im dritten Aufzug vermittelt ein kunstvoller Prospekt mit Zypressen, Grotten und Wasser italienisches Flair. Während beschwipste Hochzeitsgäste das Fest noch genießen, „Treulich geführt“ erklingt, ist das Ehepaar glücklich, endlich allein zu sein. Doch Elsa plagen Zweifel und Ängste, Lohengrin wieder zu verlieren. Sie will ihn schützen können und ihn beim Namen nennen. Sie beschwört ihn, wenigsten ihr sein Geheimnis zu verraten. Da stürzt plötzlich Telramund ins Hochzeitsgemach und er ersticht ihn. Die liebliche Kulisse verschwindet und eine schroffe, bedrohliche Felsenküste signalisiert schon das Unheil. Inzwischen formiert sich das Heer, das der Schützer von Brabant in den Kampf führen soll, Fanfaren erklingen. Doch es kommt anders. Lohengrin bekennt sich des Mordes an Telramund schuldig, aber der König verurteilt ihn nicht. Da verkündet der Ritter nahezu emotionslos den Schwurbruch Elsas und ist bereit, seine wahre Identität als Gralsritter und Sohn Parzivals zu offenbaren. Damit ist sein Schicksal besiegelt. Er muss zurück in das Reich der Mystik. Schon zieht der Schwan heran, aber Lohengrin verspricht die Rückkehr des totgeglaubten Bruders. Elsa stirbt, auch für Ortrud gibt es kein Weiterleben.
Tatsächlich verwandelt sich der Schwan in den Jungen, der die Herrscherinsignien erhält und alle huldigen dem neuen Herzog von Brabant.
Ansgar Haag hat die richtige Art gefunden, diese Oper so zu erzählen, dass sie der Idee Wagners treu bleibt, aber darüber hinaus noch mehr Modernität wagt. Er richtet den Fokus auf Ortrud, die alte Werte und Religion in Frage stellt und weit emanzipierter agiert. Sie ist die Schlüsselfigur für den Umbruch in Politik, Religion und Gesellschaft. Noch scheitert sie. Das Publikum dankt ihm, dass es keine abstrakt öden und farblosen Schauplätze ertragen muss, sondern in faszinierenden Räumen mit bestechenden Motiven diese wundervolle Musik erleben darf. Bühnenbildner Dieter Richter kombiniert traditionelle Elemente mit modernen, lässt Farbe und Licht spielen und erzeugt weit mehr als einen stimmungsvollen Rahmen. Unter dem Dirigat von GMD Philippe Bach lässt die Hofkapelle alle Gefühlswelten dieses romantischen Werkes Wirklichkeit werden.“ Kerstin Jacobssen setzt „narrative Akzente“ und legt Wert auf Ästhetik. Ihre Kostüme erzählen Geschichten, signalisieren Botschaften, Charaktereigenschaften oder Stand und Herkunft und schlagen einen Bogen von der Zeit Wagners bis heute. Es macht Spaß, die vielen Details zu entdecken und man kann sich nicht sattsehen.
Diese Lohengrinpremiere dürfte zu den Sternstunden des Meininger Theaters zählen und der frenetische Schlussapplaus spiegelt die Hochachtung des Publikums vor einer wunderbaren Aufführung.
Inge Kutsche, 25.4.22
Bilder: Christina Iberl und arifoto Michael Reichel