22.3. – 25.3 2016
Das erste Festival der holländischen Operngeschichte blickt in die Zukunft
In der europäischen Opernlandschaft nehmen die Niederlande einen ganz besonderen Platz ein, in dem die Musik groß und die Oper traditionell eher klein geschrieben werden. Das hat damit zu tun, dass die „niederländische Föderation“ – ähnlich wie die Schweiz – erst mit der Napoleonischen Besatzung zu einer Monarchie mutierte und somit nie eine Hofkultur entwickelt hat, in der die Gattung Oper hätte florieren können. Und in den protestantischen Ländern stand man sowieso der barocken Oper eher misstrauisch gegenüber. Dafür hatte man umso mehr Sinn für Musik, insbesondere für Chöre, die im protestantischen Gottesdienst eine wichtige Rolle spielen. So erklärt sich wahrscheinlich, dass die meist gespielte „Oper“ in Holland seit vielen Jahren Bachs „Matthäus-Passion“ ist, die in dieser Spielzeit 180 Mal aufgeführt wird (!). Das in den holländischen Medien zur Zeit meist verfolgte Musik-Event ist „The Passion“, eine moderne Art der Passionsspiele, an denen jeder teilnehmen kann (auch per Internet) und die mit den traditionellen Passionsspielen wie in Erl nichts zu tun haben. Denn in Holland werden die Hauptrollen durch bekannte Leute aus der Film- und Medienwelt gespielt – Christus hat dann auch mal einen gemütlichen Bierbauch. Dazu gibt es live-Musik von holländischen Popstars, die nichts mit Ostern zu tun hat.
Die Liebhaber klassischer Musik gehen ins „Konzerthaus“, vor allem ins „Concertgebouw“ in Amsterdam, mit einer fabelhaften Akustik und einem der besten Orchester der Welt. Hier wurde die „Matthäus-Passion“ in dieser Spielzeit schon zwölfmal aufgeführt – jedes Mal schon Monate im Voraus ausverkauft! Wir besuchten die Vorstellung mit Sir John Eliot Gardiner und den English Baroque Soloists, die in einer kleinen aber feinen Besetzung mit 24 Originalinstrumenten, einem Cembalo und zwei Orgeln antraten. Auch die jungen Mädchen des „Nationaal Jeugdkoor“ waren nicht mehr als 50, füllten jedoch dank der unglaublichen Akustik mühelos den Grossen Saal mit 2000 Plätzen. In anderen Ländern unvorstellbar: vier Stunden lang hat niemand gehustet, und niemand klatschte vor dem Schluss – was dem Abend eine große Ruhe und Konzentration verlieh. Und für Merker besonders auffällig: alle Musiker & Sänger spielten & sangen das ganze lange Werk vollkommen auswendig. Stephan Loges war ein ergreifender Christus, der jedoch im Schatten blieb von dem wirklich herausragenden Evangelisten von Mark Padmore.
Ein Publikum, das sich für solche „schwierigen“ Werke mit „komplizierten“ religiösen und philosophischen Inhalten begeistert, hat einen völlig anderen Zugang zur Oper als das traditionelle Opernpublikum. Amsterdam besitzt auch erst seit fünfzig Jahren ein eigenes Opernensemble, das seit 1988 durch Pierre Audi geleitet wird. Jünger, gewagter und weltoffener hätte die Intendantenwahl kaum ausfallen können, denn der damals gerade 30-jährige Audi, im Libanon geboren, in Paris aufgewachsen und in London lebend, hatte noch nie eine Oper inszeniert (!). Doch die Rechnung ging auf, und Audi entdeckte zusammen mit seinem Publikum das Medium Oper „auf eine zeitgerechte Art“. An der Nationale Opera in Amsterdam spielt man unter Audi mehr Werke von Schönberg und Stravinsky als von Verdi und Puccini, und jedes Jahr gibt es mindestens eine große Opern-Uraufführung. So blickt auch das erste Opernfestival klar und deutlich nach vorne, wie der Name schon sagt: „Opera Forward Festival, New voices, New visions“. Alles ist unglaublich jung und frisch – eben nicht wie man sich traditionell das Medium „Oper“ vorstellt. Dank einer beeindruckenden Reihe an Koproduzenten und Sponsoren wird zehn Tage lang von morgens früh bis abends spät ein meist kostenloses Programm geboten. Mit vielen „Fallbeispielen“, denn fünf junge Komponisten haben fünf kleine Opern von 15 Minuten komponiert, die mehrere Male pro Tag aufgeführt werden. 500 Studenten von den verschiedenen Konservatorien, Film- und Theaterschulen haben das riesige Rahmenprogramm betreut, und es wehte nicht nur in den Vorstellungen, sondern auch davor und danach ein wirklich „neuer Wind“.
Kaija Saariaho
ONLY THE SOUND REMAINS
Welturaufführung einer buddhistischen Oper
Die in Paris lebende finnsche Komponistin Kaija Saariaho gehört seit ihrer Erstlingsoper „L’Amour de loin“ (Paris, Salzburg, 2000) zu den interessantesten Opernkomponisten unserer Zeit. Alle ihre vier Opern wurden von Peter Sellars inszeniert, der eine bedeutende Rolle bei der Stoffwahl hat und auch einige Werke bei ihr in Auftrag gab. Sellars ist schon lange nicht mehr der „Bad Boy“, der 1983 als Erster „Don Giovanni“ bei Mac Donalds inszenierte, sondern konvertierte inzwischen zum Buddhismus, was seiner Bühnenarbeit eine ganz andere Aura verleiht. So inszenierte er zum Beispiel eine der schönsten Aufführungen von „Tristan und Isolde“ die wir je gesehen haben. Sellars, der letztes Jahr längere Zeit in einem Kloster in der Gobi-Wüste verbracht hat, wählte zwei kleine Nô-Geschichten. In „Always Strong“ von Tsunemasa geht es um einen Priester, der mit dem Geist eines verstorbenen Mönchs musiziert, und in „Feather Mantle“ von Hagorno um einen Fischer, der in seinen Netzen den Federmantel eines Engels findet und danach den Engel bittet, für ihn zu tanzen. Diese „Lehr-Stücke“ für Zen-Mönche scheinen dramaturgisch kaum tauglich für eine klassische Oper, denn wie kann man z.B. auf der Bühne glaubhaft mit den Verstorbenen singen? Die Komponistin wählte auf Bitten des Regisseurs für die Rolle des Engels den Countertenor Philippe Jaroussky, dessen schwereloser Sopran überzeugend einen geschlechtslosen Engel verkörpern kann (sonst wurden beinahe alle Opern von Saariaho für die Soprane Dawn Upshaw und Karita Mattila komponiert). Für den Priester und Fischer wählte sie den erdgebundenen, schwarzen Bariton Davone Tines und für den Federtanz des Engels zusätzlich die Tänzerin Nora Kimball-Mentzos. Sie werden von einem „Chor“ vier hervorragender Sänger begleitet und einem Orchester von nur sieben Musikern: vier Streicher (das Dudok Kwartet) und drei Allroundmusiker mit vielen, vielen Instrumenten, die „Schlagzeug“, „Bläser“ und „Kantele“ spielen (eine finnische Variante der Zither & des Hammerklaviers). Alles unter der höchst achtsamen Leitung von André de Ridder.
Der Abend wird mit einem Gong-Schlag eröffnet, als ob man sich in einem tibetanischen Kloster befände. Das Echo wird elektronisch verstärkt und hallt noch lange durch den Saal. Wir hören den Wind flöten und pfeifen, und kaum verständlich wird ganz leise gesprochen: die Mönche beten. Hinter den vier Sängern erscheint der Priester, doch wir erkennen nur seinen Schatten. Alles ist stark reduziert, subtil und von einer erstaunlichen Homogenität, denn das Ensemble hat sechs Wochen zusammen geprobt, und die Musiker waren immer dabei. Sellars erzählt beide Geschichten ganz „aus dem Geiste der Musik“ (wie Nietzsche es ausdrücken würde), und erst langsam erobern die beiden Sänger, aus dem offenen Orchestergraben steigend, die Vorderbühne. Erst im allerletzten Bild wird die Tänzerin die ganze Bühne bespielen. Die Identifikation aller Beteiligten mit dem Stück ist so spürbar – es scheint, dass Sellars sechs Wochen lang, jeden Tag, jeden Mitarbeiter einzeln lang umarmt hat – dass man nur den Ensemblegeist und niemanden im Besonderen hervorheben möchte.
Die beiden Sänger sind natürlich am stärksten präsent. Sie verkörpern Liebe, Tod, Verlangen, Leidenschaft und Entsagen, denn Sellars hat den beiden Zen-Geschichten eine viel größere Dimension gegeben als sie auf den ersten Blick haben. Er tut dies mit einer solchen Intensität, dass gewisse Gesten, die auf anderen Bühnen so schnell banal oder klischeehaft sein können, wie zum Beispiel eine Umarmung oder ein Kuss, hier eine spirituelle Bedeutung bekommen. Diese wird noch unterstützt durch das karge Bühnenbild der äthiopischen Malerin Julie Mehretu und der ganz wunderbaren Beleuchtung von James F. Ingalls. Oper als ein spiritueller Weg? Die meist berührende „neue Oper“ des Festivals wird in den nächsten Jahren an vielen Opernhäusern aufgeführt werden; in Helsinki, Paris, Madrid und Toronto und dann sicher noch an vielen anderen Orten in der weiten Welt.
Bilder (c) Ruth Walz / De Nationale Opera
Michel van der Aa
BLANK OUT
Eine Oper für Bühne und Film – zu erleben mit einer 3D-Brille
Der niederländische Komponist Michel van der Aa stellt in seinem neuesten Werk – wahrscheinlich auf Bitten des Festivals – ganz ähnliche Fragen wie Saariaho und Sellars. Wieder geht es um den Dialog eines Lebenden mit einem Toten, ausgehend von einer Novelle der südafrikanischen Dichterin Ingrid Jonker. Eine Frau versucht vergeblich sich zu erinnern, was 1976 genau passierte, als wenige Meter vor ihrem Haus ihr siebenjähriger Sohn vor ihren Augen ertrank und sie nicht im Stande war, um Hilfe zu rufen. Sie rekonstruiert das Haus als kleines Puppenhaus, in dem sie versucht, die Möbel wieder genauso aufzustellen wie sie damals standen, schneidet alte Fotos ihres Jungen aus und filmt das Ganze. Während sie uns dies erzählt, laufen ihre Filme auf einer großen Leinwand. Wir sehen dort auch wieder den (gefilmten) Anfang der Vorstellung. So singt die Frau im zweiten Durchlauf im Duo mit sich selbst und danach auch noch im Trio, sodass man bald nicht mehr weiß, wer nun singt oder spricht: die reale Frau auf der Bühne oder die – in unseren Augen – genau so reale Frau auf der Leinwand? Das Regiekonzept ist ein völlig anderes als bei Sellars. Dort wurde alles „aus dem Geiste der Musik“ reduziert und abstrahiert, bei Van der Aa, der auch Regie & Ausstattung übernahm, wird alles sehr konkret. Das Werk heißt auch „chamber opera for soprano, baritone, choir and 3D film“. Um die Grenzen zwischen Bühne und Film noch besser zu vertuschen, bekam das Publikum 3D-Brillen (für mich das erste Mal in einem Opernhaus!).
Doch auf diese Weise hatte der Film auch deutlich mehr Gewicht als das eigentliche Bühnengeschehen. So wie viele Erstlingsregisseure, war Van der Aa total fasziniert von den heutigen technischen Möglichkeiten einer „Filmbühne“ und scheint der Technik mehr Zeit und Energie gegeben zu haben als der Musik. Wofür Saariaho nur ein Flüstern der Flöte nötig hatte, das Sellars mit nur einigen Schatten szenisch umsetzte, brauchte Van der Aa lange Filmsequenzen (mit O-Ton), wo auch noch detailfreudig über Automotoren, Schulranzen und Pizzabestelllungen berichtet wurde. Und um den Zuschauer völlig zu verwirren, erschien in der Mitte des Stückes ein Mann auf der Leinwand, der sich langsam als der ertrunkene Sohn outete und uns nun erzählte, dass damals nicht er, sondern seine Mutter gestorben sei. Fazit des komplizierten Stückes: die einzige Person, die real auf der Bühne stand, der Sopran Miah Person, war eine Halluzination, und ihr Sohn, der Bariton Roderick Williams, den wir nur auf der Leinwand sahen, war/ist die Wirklichkeit.
Michel van der Aa (1970 geboren) wird als eine „Galionsfigur der holländischen Musik“ beschrieben: es gibt jedes Jahr ein neues Werk von ihm. Es wäre übertrieben, mit dieser Oper die ganze, sehr vielfältige moderne Musikszene der Niederlande charakterisieren zu wollen, aber einige Elemente erscheinen uns als „typisch holländisch“: e die sehr umfassende (Aus)Bildung der Komponisten – erkenntlich in der besonderen Stoffwahl – und ihr großes Interesse für Bühnen- und Filmtechnik. Alles sehr intelligent, kultiviert, kosmopolitisch, aber eben auch sehr zerebral und rationell. Spricht hier der protestantische Hintergrund?
Bilder (c) Marco Borggreve / De Nationale Opera
Domenico Cimarosa
IL MATRIMONIO SEGRETO
Ein lustiges Spiel mit jungen Sängern, die perfekt geführt werden
Frage: Was hat das „dramma giocoso“ von Domenico Cimarosa, 1792 an der Wiener Hofburg in Anwesenheit des Kaisers uraufgeführt, in einem „Opera Forward Festival“ zu tun? Antwort: die lustige Oper ist ein idealer Einstieg für junge Sänger und Musiker, die in den Buffo-Szenen ihr Talent leichter entfalten können als in einem neuen Werk. Und gerade im Hinblick auf Jugend wurde für diese Produktion der „Dutch Opera Design Award“ gegründet, der jungen Bühnen- und Kostümbildern eine erste Chance bietet. Die beiden Preisträger Francesco Cocco und Federica Miani schufen eine originelle Ausstattung: jung, frisch und bunt, in der sich die sehr gut ausgearbeitete Inszenierung von Monique Wagemakers wunderbar entfalten konnte. So eine gute Personenführung haben wir schon lange nicht mehr gesehen: die aus ganz Europa angereisten jungen Sänger bewegten sich so frei auf der Bühne, dass man wirklich nicht glauben konnte, dass sie alle erst 20-25 Jahre alt sind. Die tiefen Buffo-Rollen hatten wie so oft den lustigsten Part. Der Abend wurde angeführt durch den dicken „Pappa“ Geronimo, gesungen von Mikheil Kiria vom Opernstudio der Scala, und seiner alten Schwester Fidalma, Hanna-Liisa Kirchin, die sich in den schönen Diener Paolino verliebt hat (Milos Bulajic vom Opernstudio der Staatsoper Berlin). Doch dieser hat sich in geheimer Ehe schon mit der jüngsten Tochter des Hauses, Carolina, verheiratet die nun den conte Robinson heiraten soll, da dieser ihre ältere Schwester Elisetta (Florie Valiquette) auch mit hunderttausend Thalern Mitgift partout nicht haben will. Michael Wilmering singt den Grafen mit einer solchen Spielfreude, dass man nicht versteht, warum Carolina lieber mit dem viel blasseren (indisponierten?) Tenor von dannen zieht. Lilian Farahani singt das aber mit einer solchen Gesangskunst, dass man ihr alles glauben will. Sie wurde begleitet durch das jugendlich frische Nationaal Jeugd Orkest unter der fachmännischen Leitung von Benjamin Bayl. Nach Amsterdam wird diese Koproduktion des Opernstudios „Nationale Opera talent“ weiterziehen an die beiden anderen Opernhäuser der Niederlande, die Nationale Reisopera (im Osten) und die Opera Zuid (im Süden).
Nach der letzten Vorstellung des Festivals floss der Champagner, und Pierre Audi gab bekannt, dass das Opera Forward Fesival nun jedes Jahr stattfinden wird und die Weichen für die nächste Edition für Ostern 2017 schon gestellt sind. Wir sind gespannt und werden sicher wiederkommen!
Waldemar Kamer 26.3.2016
Bilder (c) Hans van den Bogaard / De Nationale Opera
Info: www.operaforwardfestival.nl