Besuchte Vorstellung am 01.04.13 ( Premiere am 23.03.13)
Romantik, Tod und moderne Familiensoziologie
Textlich und musikalisch geht es bei der bei der Zauberflöte um Initiation. Bei der ersten Opernproduktion der ersten Baden-Badener Osterfestspiele geht es auch um Initiation: Simon Rattle dirigiert seine erste Zauberflöte, die Berliner Philharmoniker geben ihre erste Operndarbietung im Festspielhaus. Allein der Wechsel der Berliner von Salzburg nach Baden-Baden hatte im In- und Ausland ungewöhnliches Medieninteresse erweckt, das Interesse an der Opernproduktion sprengte das Normale. Die Intendanz hat einen wahren Coup gelandet. (Unser kurzer Rückblick zu den Osterfestspielen weiter oben)
Der Regisseur Robert Carsen hatte indessen kein Debut mit der Zauberflöte: er hatte sie schon vor neunzehn Jahren in Aix-en-Provence inszeniert. Von einer Märchenoper wollte er nun aber nichts mehr wissen. Beim Durchlesen des Schikaneder-Librettos stieß er sechzig Mal auf die Wörter wie „Tod“ oder „Grab“ und inszenierte – dieser Tatsache als Leitfaden folgend – ein teilweise düsteres Totengräberstück. Der aufklärerischen Klassik mit ihrer Antikenliebe, in welcher das Werk entstand, folgte die Romantik mit ihrer Todessehnsucht. Mozart konnte das noch nicht wissen, aber Carsen weiß es und ersetzte die klassisch-verankerte Sicht auf das Werk durch einen Wald, nicht etwa einen Irminsul-Hain, sondern einen prächtigen deutschen Laubwald: das ist der Weisheitstempel, das „prächtige ägyptische Zimmer“ ein Waldlichtung mit ausgehobenem Grab. Als dritte wesentliche neue Sichtweise erscheint das Verhältnis Paminens zur Königin der Nacht und zu Sarastro, die wie ihre geschiedenen Eltern erscheinen, sich gegenseitig übler Charaktereigenschaften beschuldigen und – jeder für sich – das Kind haben wollen, das gerade erwachsen wird und sich schon ein eigenes Bild zu machen beginnt.
Michael Nagy (Papageno); Pavol Breslik (Tamino); Annick, Massis, Magdalena Kožená, Nathalie Stutzmann (1., 2. und 3. Dame)
Mit diesen drei neuen Blicken auf die Zauberflöte entkommt Carsen dem Problem, etwas noch schöner, origineller und gekonnter zu inszenieren, was schon Hunderte vor ihm gemacht haben, und schafft sich seine eigenen Koordinaten. Das ist im Großen und Ganzen gelungen, wenn auch nicht alles schlüssig wirkt. Viele Details der Inszenierung sind nicht nur interessant, sondern auch originell und gekonnt, aber wegen der verqueren dramaturgischen Gestaltung am Ende verbleibt ein zwiespältiger Eindruck. Mal sehen, welcher Regisseur sich in naher Zukunft als erster aus Carsens neuen Elementen bedienen wird.
Beginnend mit den drei Schlägen der Ouvertüre strömt Volk aus dem Zuschauerraum auf eine breite Umrandung des Orchestergrabens, die das Orchester etwa zur Hälfte abdeckt, und lungert dort herum. Der Vorhang hebt sich. Das Bühnenbild von Michael Levine erscheint denkbar einfach; vor einer bühnenportalgroßen Fototapete mit einem schönen frühsommerlichen Laubwald sieht man eine Wiese und ein frisch ausgehobenes Grab. Die Menge ergreift den unter ihr weilenden Tamino (in schönem weißem Anzug) und wirft ihn dort hinein. Hier hockt aber die listige Schlange, so dass Tamino angstzitternd gleich wieder herauskommt. Die drei Damen in Schwarz (Kostüme: Petra Reinhardt) retten ihn mit Pistolenschüssen; vor Schreck bricht er zusammen. Dann kommt Papageno gewandert: ein obdachloser Fahrensmann mit Rucksack, Isomatte und Wanderstiefeln, in der Hand eine Kühltasche. Sein prahlerisches Maul schließen die Damen per Fernbedienung. Paminens Bild lassen die drei Damen auch im Laubwald erscheinen: erst eine zarte Mädchenfigur im weißen Kleidchen, dann flächendeckend nur noch ihr Gesicht. Tamino wird zur Liebe erweckt. Inzwischen werden auf der klassisch perspektivisch überzeichneten Bühne noch zwei weitere Horizonte aufgezogen – jeweils mit dem gleichen Waldbild im Prospekt, davor zwei weitere frisch ausgehobene Gräber. Die Abreise in Sarastros Reich: Papageno und Tamino steigen auf Leitern in die Gräber hinunter. Unter dem germanischen Wald liegen nämlich die „heiligen Hallen“, wo sich die weitere Handlung abspielt. Man befindet sich unten zwischen Särgen, über die vorher gezeigten Leitern kann man auch wieder nach oben entkommen. Aber hier unten müssen die Prüfungen bestanden werden. Für Papageno ist das gar nicht so schwer, denn er findet in den Särgen sowohl Rotwein als auch seine zombiehafte Papagena. Pamina indes will nicht verstehen, warum sie von Tamino mit seiner Schweigeverpflichtung angeödet wird. In der Fototapete hat sich der sommerliche Wald inzwischen über ein Herbstbild in tiefen Winter begeben, als die Selbstmordversuche anstehen. Dann kommt sogar das Vorfrühjahr, ehe die Jahreszeiten rasch zurückgedreht werden, bis der Endjubel wieder vor dem Sommerwald stattfindet, wenn sich die Eingeweihten wieder aus ihrer finsteren Kluft schälen und als Bürger des Hier und Heute wieder den Orchestergraben umlagern. Der Kreis hat sich geschlossen.
Monostatos und seine Sklaventruppe treten wurmartig mit Spaten als Totengräber auf. Die Eingeweihten sind keine Lichtgestalten, sondern in Kutten gehüllte Dunkelmänner mit Schlapphut, ebenfalls mit Spaten auftretend. Sarastro ist bei der Königin großer Rachearie anwesend. Bei Taminos Initiation verzeihen sich die beiden gegenseitig, hätscheln Pamina und spielen der Jugend heile Welt vor. Warum dann aber die Königin nochmals (zusammen mit Monostatos und den Damen) Rache sucht, stellt einen neu erfundenen dramaturgischen Bruch in dieser Geschichte dar. Zum Schluss haben sich aber alle lieb, selbst der böse Mohr darf an den Feierlichkeiten teilhaben. Auch die Schnitte, die die Oper gegen Ende erfahren hat, machen dieses Geschehen nicht wirklich plausibel. Eine stringent herausgearbeitete Stellungnahme der Regie fehlt hier. Man kann sich indes an etlichen kreativen Regieeinfällen und einer gelungenen Personen- und Chorführung erfreuen.
Die drei Knaben treten in mehrfache Gestalt auf. Als Straßenfußballer werden sie erst im stummen Einsatz vorgestellt; dann treten sie bei ihren vier Einsätzen sukzessive als kleine Taminos barfuß in weißen Anzügen auf, dann als Eingeweihte in dunklem Umhang, als kleine Paminas in weißem Kleidchen und zum Schluss als kleine Papagenos, Projektion des vom entsprechenden erwachsenen Paar geäußerten Kinderwunsches. Die Königin ist nicht die zähnefletschende Rachegöttin in nachtblau, sondern eine eher fragile Figur im kleinen Schwarzen mit kupferroter Mähne.
Pavol Breslik (Tamino)
Weniger kreativ ging es im Graben zu. Für die Zauberflöte brauchte Sir Simon Rattle nur ein knappes Drittel seiner Berliner Philharmoniker zu versammeln Trotz des teilweise überbauten Grabens kommt der Klang nicht gedämpft heraus, sondern sehr konkret und fokussiert Aber ob der umbaute Graben irgendwo die Sicht auf den Dirigenten behinderte? Jedenfalls kam es kam es im gesamten Verlauf des Abends immer wieder zu Unschärfen zwischen Graben und Bühne, wobei das Orchester stetig voranschritt. Dabei hinterließ es bei aller technischer Perfektion sowohl bei Tutti und Bläserpassagen als auch bei den perfekt durchsichtig musizierten kammermusikalischen Passagen insgesamt einen eher spröden Eindruck und konnte die Inspiration, die in der Partitur steckt, für das Publikum nicht voll erlebbar machen. Hierzu trugen auch die teilweise recht gemessenen Tempi bei. Ganz anders dagegen der Rundfunkchor Berlin mit, ein geschmeidiger homogener und ausgesprochen klangschöner Körper mit subtiler Textverständlichkeit.
Michael Nagy (Papageno); Regula Mühlemann (Papagena); Simon Rattle (Dirigent)
Ein spielfreudiges, sehr gutes bis hervorragendes Solistenensemble, „handverlesen“ aus Sängern zusammengestellt, von denen die meisten gerade erst über die Dreißig waren, stellte unzweifelhaft die Speckseite des Abends dar. Zwar hatte leider Simone Kermes als Königin der Nacht absagen müssen, so dass dieser Besetzung nun die Glamour-Figur fehlte. Aber Ana Durlovski, vor fünf Jahren noch im Ensemble des Staatstheaters Mainz, nun an der Oper Stuttgart, vertrat sie mehr als respektabel. Sicher hat sie noch nicht die für einen so großen Saal wie den des Festspielhauses gewünschte Durchschlagskraft (wurde hier vielleicht auch „diskret“ verstärkt?), aber mit der Feinheit ihrer Interpretation und ihrer dazu passenden superben Bühnenerscheinung konnte sie das Publikum doch überzeugen: ihr gut ansprechender, schlanker Sopran verfügt über schöne Strahlkraft, Leichtigkeit und Koloratursicherheit bei präziser Intonation auch der Spitzentöne ohne jede Schärfe. Kate Royal gab die Pamina mit idealtypischer jugendlicher Erscheinung und noblem Stimmmaterial. Sie brachte die geforderte Innigkeit der Rolle mit sanfter farbenreicher Lyrik und schöner Leuchtkraft. Als Tamino war der junge slowakische Überflieger Pavol Breslik besetzt; auch er mit seiner jugendlichen Erscheinung und ebenso jugendlich-hellem schön geführtem Mozart-Tenor eine Idealbesetzung. Alles Heldische blendete er aus seiner Interpretation aus.
Mit Michael Nagy ist am notorisch gut bevölkerten deutschen Bariton-Himmel ein weiterer Stern aufgegangen. Sein komödiantisches Talent und seine Vielseitigkeit prädestinieren ihn für die Opernbühne und hier auch für den Papageno. Wäre an dem Abend eine Sängerkrone zu verdienen gewesen, er hätte sie bekommen – und das bedarf keiner weiteren Detaillierung. Die Papagena gestaltete Regula Mühlemann quicklebendig (obwohl zuerst als Zombie auftretend) mit silbrigem beweglichem Sopran. Dimitry Ivashenkos ebenfalls sehr jugendliche Erscheinung passte als Sarastro nicht ganz so gut ins Rollenprofil. Zwar brachte er sein überlegen strömendes Bass-Material zur Geltung, aber an Tiefe, Würde und Ausstrahlung in dieser Rolle könnte er noch zulegen. Neben klangschönen Terzett-Gesang profilierten sich die drei prominent besetzten Damen auch solistisch. Nach ihrer Stimlage waren die Haare von blond bis brünett gefärbt. Annick Massis gefiel mit glockenhellem Sopran, aber ihr starker französischer Akzent in den gesprochenen Passagen ist unterirdisch. Besser machte es der tiefgründige Alt von Nathalie Stutzmann als dritte Dame mit nur leichtem charmant-muttersprachlichem Akzent. Samtig der Mezzo von Magdalena Kožená als dritte Dame. James Elliott blieb als Monostatos etwas dünn. Die drei Knaben wurden aus den Aurelius Sängerknaben in Calw besetzt: David Rother, Cedric Schmitt und Joshua Augustin sangen sie reintönig und klar. Bei den kleinen Rollen machte noch Jonathan Lemalu mit schön strömendem Bass als Zweiter Priester auf sich aufmerksam. José van Dam hat sich von der Opernbühne nur als Sänger verabschiedet: hier gab er einen sonor würdigen Sprecher.
Vier Vorstellungen der Oper (gegenüber zwei Opernabenden früher bei den Salzburger Osterfestspielen) konnten bis auf den letzten Platz verkauft werden, obwohl schon seit längerem bekannt war, dass die Derniere an diesem Abend vom Fernsehen direkt übertragen werden würde. Eine Viertelstunde Beifall im Stehen beendeten diese letzte Veranstaltung der ersten Osterfestspiele in Baden-Baden. 2014 wird es Baden-Baden den Reiz des Neuen mit den Berlinern nicht mehr geben, aber ein Programm mit noch mehr Abwechslung
Manfred Langer, 03.04.13 Fotos: Andrea Krempe